18.09.2017 Zivilrecht

OGH: Antrag der Großeltern auf Übertragung der Obsorge

Kein Elternteil hat ein unabhängig vom Wohl des Kindes bestehendes Vorrecht auf dessen Pflege und Erziehung, was umso mehr für andere Verwandte gilt; niemandem kommt bloß aufgrund des Statusverhältnisses ein Vorrecht zu; der Elternteil, dem die Pflege und Erziehung des Kindes übertragen wurde, muss diese keineswegs selbst besorgen, sondern kann sie auch anderen Personen überlassen; allerdings muss ihm die Oberaufsicht über die Betreuung und die verantwortliche Leitung der Erziehung vorbehalten bleiben


Schlagworte: Familienrecht, Obsorge, Übertragung, Großeltern, Pflegeeltern, Neuerungsverbot, aktenkundige Entwicklungen
Gesetze:

 

§ 181 ABGB, §§ 177 ff ABGB

 

GZ 4 Ob 111/17b, 27.07.2017

 

Der dreieinhalb Jahre alte Minderjährige befindet sich seit 2014 in einer Krisenpflegeeinrichtung, und zwar aufgrund einer freiwilligen Vereinbarung mit der Mutter, die die bis dahin bestehende Obsorge aufgrund ihrer Drogenabhängigkeit nicht mehr leisten konnte. Der Bub wird von Pflegeeltern betreut, bei denen es ihm sehr gut geht und wo er sich sehr gut entwickelt; er hat regelmäßigen Kontakt sowohl mit der Mutter als auch den Großeltern. Zwischen Mutter und Großeltern besteht hingegen kein Kontakt.

 

Dem Antrag der mütterlichen Großeltern, ihnen die Obsorge zu übertragen (dem der Kinder- und Jugendhilfeträger grundsätzlich zugestimmt hatte, gegen den sich aber Mutter und Pflegeeltern ausgesprochen hatten), gab das Erstgericht statt.

 

Das Rekursgericht gab jedoch dem Rekurs der Mutter Folge und wies den Obsorgeantrag der Großeltern ab. Das Wohl des sich bei den Pflegeeltern sehr wohl fühlenden und gut entwickelnden Kindes, insbesondere der Grundsatz der Kontinuität der Erziehung, gehe dem aus dem Angehörigenverhältnis abgeleiteten Interesse der Großeltern vor.

 

OGH: Der Entscheidung über die Übertragung der Obsorge kommt im Einzelfall keine grundsätzliche Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zu, wenn dabei ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen wurde. Auch die Frage, welche Beweisaufnahmen notwendig sind, bevor das Gericht eine Obsorgeentscheidung fällen kann, ist einzelfallbezogen. Obsorge- und Kontaktrechtsentscheidungen begründen als Entscheidungen des Einzelfalls nur dann erhebliche Rechtsfragen, wenn leitende Rechtsprechungsgrundsätze verletzt werden.

 

Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind; nur sichere Prognosen für eine erhebliche Förderung des Kindeswohls gestatten eine Änderung. Bei der Entscheidung sind neben den materiellen Interessen an möglichst guter Verpflegung und guter Unterbringung der Kinder auch das Interesse an möglichst guter Erziehung, möglichst sorgfältiger Beaufsichtigung und an möglichst günstigen Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen seelischen und geistigen Entwicklung zu berücksichtigen. Die Obsorgeentscheidung ist zukunftsbezogene Rechtsgestaltung und nur dann sachgerecht, wenn sie auf aktueller Sachverhaltsgrundlage beruht. Bei der Entscheidung über eine Obsorgeentziehung müssen auch die zwangsläufig belastenden Auswirkungen dieser Maßnahme auf das Kindeswohl mit berücksichtigt werden.

 

Kein Elternteil hat ein unabhängig vom Wohl des Kindes bestehendes Vorrecht auf dessen Pflege und Erziehung, was umso mehr für andere Verwandte gilt; niemandem kommt bloß aufgrund des Statusverhältnisses ein Vorrecht zu.

 

Der Elternteil, dem die Pflege und Erziehung des Kindes übertragen wurde, muss diese keineswegs selbst besorgen, sondern kann sie auch anderen Personen überlassen; allerdings muss ihm die Oberaufsicht über die Betreuung und die verantwortliche Leitung der Erziehung vorbehalten bleiben.

 

Der Maxime des Kindeswohls ist im Obsorgeverfahren auch dadurch zu entsprechen, dass der OGH aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, ungeachtet des im Revisionsrekursverfahren an sich herrschenden Neuerungsverbots auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind. Dies bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände; außerdem ist das Neuerungsverbot im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls nur insofern durchbrochen, als der OGH solche – nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetretene – Entwicklungen lediglich dann zu berücksichtigen hat, wenn die bisherige Tatsachengrundlage dadurch wesentlich verändert wird. Im Übrigen sind daher neue Tatsachenbehauptungen in einem Rechtsmittel nicht zu berücksichtigen. Vor allem ist zu bedenken, dass bei wesentlicher Änderung der für die Obsorgefrage maßgeblichen Umstände den Parteien ohnehin die Möglichkeit einer neuerlichen Antragstellung offensteht. Allein neues Vorbringen im Rechtsmittel macht die betreffende Behauptung nicht schon zur aktenkundigen und deshalb zu berücksichtigenden Tatsachengrundlage. Eine Pflicht zur ständigen amtswegigen Erhebung der jeweiligen aktuellen Umstände besteht dagegen nicht.

 

Aus den von den Großeltern in ihrem Revisionsrekurs behaupteten jüngeren Entwicklungen – die Mutter nehme die Besuchsrechtskontakte zu ihrem Sohn zwischenzeitig nicht mehr wahr – erschließt sich keine vom OGH erstmals aufzugreifende, die Tatsachengrundlage gesichert verändernde – und dringende Maßnahmen erfordernde – Entwicklung. Aktuell sind – insbesondere im Hinblick auf die gelingende Betreuung durch die Pflegeeltern, aber auch auf einen von den Rechtsmittelwerbern selbst angesprochenen „Hilfeplan“ – weder eine akute Gefährdung des Kindeswohls bei Belassung der Obsorgesituation einerseits noch eine gesichert zu erwartende Förderung des Kindeswohls durch deren Änderung im beantragten Sinne andererseits ersichtlich.