15.11.2011 Zivilrecht

OGH: § 140 ABGB und Anspannungsgrundsatz

Die realen Erwerbschancen eines Unterhaltspflichtigen sind wie die Anwendung des Anspannungsgrundsatzes nach den konkreten Umständen des Einzelfalls auszuloten


Schlagworte: Familienrecht, Unterhalt, Anspannung, Verschulden, Pensionsvorschuss, Sozialhilfe, Erwerbschancen
Gesetze:

§ 140 ABGB, § 23 AlVG

GZ 7 Ob 140/11f, 28.09.2011

 

OGH: Gem § 140 Abs 1 ABGB trifft den Unterhaltspflichtigen die Obliegenheit, im Interesse seiner Kinder alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft so gut wie möglich einzusetzen. Unterlässt er dies, so wird er nach dem Anspannungsgrundsatz so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können. Maßstab hiefür ist stets das Verhalten eines pflichtgemäßen, rechtschaffenen Familienvaters. Der Anspannungsgrundsatz wird dort herangezogen, wo schuldhaft die zumutbare Erzielung deutlich höherer Einkünfte versäumt wird, sodass der angemessene Unterhalt des Berechtigten nicht mehr gewährleistet ist. Das Verschulden kann in vorsätzlicher Unterhaltsflucht bestehen; es genügt aber auch (leicht) fahrlässige Herbeiführung des Einkommensmangels durch Außerachtlassung pflichtgemäßer zumutbarer Einkommensbemühungen.

 

Die realen Erwerbschancen eines Unterhaltspflichtigen sind wie die Anwendung des Anspannungsgrundsatzes nach den konkreten Umständen des Einzelfalls auszuloten. So indiziert zwar zB der Bezug von Sozialhilfe im Allgemeinen, dass der Unterhaltspflichtige nicht in der Lage ist, einen Arbeitsplatz zu finden. Es ist aber durchaus möglich, dass auch bei rechtmäßigem Bezug der Sozialhilfe die Voraussetzungen für eine Anspannung des Unterhaltspflichtigen bestehen bleiben. Wie der OGH bereits wiederholt ausgesprochen hat, ist auch im Fall des Bezugs von Vorschüssen auf Leistungen der Pensionsversicherung gem § 23 AlVG (Pensionsvorschuss) im Einzelfall zu beurteilen, ob dem Unterhaltspflichtigen die Unterlassung der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ungeachtet der Beantragung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit und der damit verbundenen Gewährung von Pensionsvorschuss vorwerfbar ist.