20.01.2011 Strafrecht

OGH: Zum Antrag auf Einholung eines "Glaubwürdigkeitsgutachten" (iZm Suchtgift- und Alkoholmissbrauch)

Ein aussagepsychologisches Gutachten ist nur dann geboten, wenn durch Beweisergebnisse aktenmäßig belegte Ansatzpunkte für eine nicht realitätsorientierte Aussage, insbesondere etwa für eine Beeinflussung des Aussageverhaltens von unmündigen oder psychisch kranken Personen vorliegen; ein Suchtgift- oder Alkoholmissbrauch ohne sonstige, das Aussageverhalten beeinflussende, für ein aussagepsychologisches Gutachten relevante Begleiterscheinungen bietet daher keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Einholung einer derartigen Expertise


Schlagworte: Aussagepsychologisches Gutachten, Suchtgift- / Alkoholmissbrauch
Gesetze:

§ 258 Abs 2 StPO

GZ 12 Os 121/10a, 11.11.2010

In der Verfahrensrüge (§ 281 Abs 1 Z 4 StPO) kritisiert der Bf die Abweisung seines Antrags, "zum Beweis dafür, dass die Zeugin L sowohl zum Zeitpunkt der Tat als auch zum Zeitpunkt ihrer kontradiktorischen Einvernahme drogenabhängig und alkoholabhängig war, sowie unter Medikamenteneinfluss aufgrund ihrer Therapien stand und ihre Aussagen aufgrund der genannten Umstände nicht zuverlässig waren und richtig und daher auch im Zusammenhalt mit den in ihren Aussagen enthaltenen zahlreichen Widersprüchen unglaubwürdig sind, die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens durch einen Sachverständigen aus dem Gebiet der Psychologie."

OGH: Weshalb aufgrund dieser Drogenabhängigkeit und des mehrfachen Alkoholmissbrauchs auf eine sowohl konkret zum Tatzeitpunkt als auch genau zu den Vernehmungsterminen vor Polizei und Gericht bestehende vollständige Wahrnehmungs- und Wiedergabeunfähigkeit dieser Zeugin zu schließen wäre, wurde im Beweisbegehren nichts ausgeführt.

Desgleichen fehlen für die vorliegende Antragstellung notwendige Bezugspunkte zu einer notorischen Lügenhaftigkeit der Zeugin oder zu konkreten Anhaltspunkten für eine Falschaussage zum Tatgeschehen, weil aus den Angaben der Mutter des Tatopfers, wonach L Phasen hatte, wo sie Sachen verdrehte und nicht die Wahrheit gesagt hatte, keineswegs Indizien für eine krankhafte Realitätsverweigerung oder eine habituelle Falschbezichtigungstendenz abzuleiten sind.

Gleiches gilt für das begehrte aussagepsychologische Gutachten. Das methodische Grundprinzip eines aussagepsychologischen Gutachtens (iSe "Glaubwürdigkeitsgutachten") besteht darin, den zu überprüfenden Sachverhalt, also die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage, so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige arbeitet dabei zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese. Zu deren Prüfung hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt.

Bei der Begutachtung werden regelmäßig die Angaben des Begutachteten unter Heranziehung bestimmter Kriterien (zB logische Konsistenz, quantitativer Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderung ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge, Entlastung des Angeklagten, deliktsspezifische Aussageelemente) auf ihre inhaltliche Konsistenz zu prüfen sein (Inhaltsanalyse). Das so gefundene Ergebnis ist in der Regel im Wege der Konstanz-, der Fehlerquellen- sowie der Kompetenzanalyse zu überprüfen. Im Rahmen der Fehlerquellenanalyse wird es in Fällen, bei denen (auch unbewusst) fremdsuggestive Einflüsse in Erwägung zu ziehen sind, grundsätzlich erforderlich sein, die Entstehung und Entwicklung der Aussage aufzuklären (Aussagegenese). Mit der Kompetenzanalyse ist schließlich zu prüfen, ob die Aussage etwa durch Parallelerlebnisse oder reine Erfindung erklärbar sein könnte. Dazu bedarf es der Beurteilung der persönlichen Kompetenz der aussagenden Person, insbesondere ihrer allgemeinen und sprachlichen intellektuellen Leistungsfähigkeit sowie ihrer Kenntnisse in Bezug auf den Bereich, dem der erhobene Tatvorwurf zuzurechnen ist. Bei Sexualdelikten wird daher grundsätzlich die Durchführung einer Sexualanamnese in Betracht zu ziehen sein. Dies gilt zumindest bei Zeugen, bei denen - etwa aufgrund ihres Alters - entsprechendes Wissen nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann.

Ein aussagepsychologisches Gutachten wäre daher nur dann geboten, wenn durch Beweisergebnisse aktenmäßig belegte Ansatzpunkte für eine nicht realitätsorientierte Aussage, insbesondere etwa für eine Beeinflussung des Aussageverhaltens von unmündigen oder psychisch kranken Personen vorliegen. Ein Suchtgift- oder Alkoholmissbrauch ohne sonstige, das Aussageverhalten beeinflussende, für ein aussagepsychologisches Gutachten im dargelegten Sinn relevante Begleiterscheinungen bietet daher keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Einholung einer derartigen Expertise.