22.04.2010 Verfahrensrecht

OGH: Schutz vor Gewalt in Wohnungen - Prüfung des Wohnbedürfnisses des Antragstellers nach § 382b EO

Auch das Milieu ist, wenngleich nicht iSd gesellschaftlichen Stellung der Eheleute, kommt doch Gewalt in der Familie in allen gesellschaftlichen Schichten vor, sondern in dem Sinn maßgeblich, unter welchen konkreten Lebensumständen die Eheleute miteinander leben; dazu gehört auch die Persönlichkeit beider Ehegatten; in diesem Zusammenhang kann bei bloß singulären Vorfällen in einem gewissen Umfang der Provokation durch den Angegriffenen oder Bedrohten Bedeutung zukommen


Schlagworte: Exekutionsrecht, Schutz vor Gewalt in Wohnungen, dringendes Wohnbedürfnis, Provokation, Milieu
Gesetze:

§ 382b EO

GZ 3 Ob 235/09v, 27.01.2010

OGH: Bei der Prüfung des Wohnbedürfnisses des Antragstellers nach § 382b EO hat keine Interessenabwägung mit einem allfälligen Wohnbedürfnis des Antragsgegners stattzufinden. Ein dringendes Wohnbedürfnis wäre nur dann zu verneinen, wenn eine ausreichende und gleichwertige Unterkunft zur Verfügung steht. Der Verweis auf eine Wohnmöglichkeit bei Eltern reicht demnach ebenso wenig aus wie der Verweis auf eine vom Erstgericht als gegeben erachtete Wohnmöglichkeit in jenem Haus, an dem dem Kläger Hälfteeigentum zusteht. Der Kläger hat seinen Lebensmittelpunkt unstrittig in Wien. Zutreffend ist das Rekursgericht davon ausgegangen, dass ihm unter diesen Umständen selbst unter Zugrundelegung der Annahme, dass er seine berufliche Tätigkeit auch von diesem Haus aus ausüben könnte, eine Übersiedlung wegen der Entfernung zu Wien nicht zugemutet werden kann. Es handelt sich somit jedenfalls um keine tatsächlich gleichwertige Wohnmöglichkeit, weshalb es unerheblich ist, wie die Benützungsverhältnisse an diesem Haus beschaffen sind, ob also der Kläger das Haus infolge Zustimmung des zweiten Hälfteeigentümers bewohnen dürfte bzw ob eine solche Zustimmung überhaupt erforderlich wäre.

Beurteilungsmaßstab bei Regelungsverfügungen gegen Gewalt in der Familie ist nicht der strenge Maßstab der Unerträglichkeit, sondern jener der Unzumutbarkeit eines weiteren Zusammenlebens (Abs 1) und eines weiteren Zusammentreffens (Abs 2) mit dem Antragsgegner. Die materiellrechtlichen Grundlagen bilden unter Ehegatten die Pflicht zur anständigen Begegnung (§ 90 ABGB) und die absolut wirkenden Rechte des Einzelnen auf Wahrung der körperlichen Unversehrtheit und Integrität (§ 16 ABGB). Nach stRsp sind für die Beurteilung der - verschuldensunabhängigen - Unzumutbarkeit eines weiteren Zusammenlebens nach § 382b EO Ausmaß, Häufigkeit und Intensität der bereits (auch schon länger zurückliegenden) angedrohten oder gar verwirklichten Angriffe sowie bei - ernst gemeinten und als solche verstandenen - Drohungen die Wahrscheinlichkeit deren Ausführung maßgebend. Je massiver das dem Antragsgegner zur Last fallende Verhalten auf die körperliche und seelische Integrität des Opfers eingewirkt hat, je schwerer die unmittelbaren Auswirkungen und die weiteren Beeinträchtigungen des Antragsgegners sind und je häufiger es zu solchen Vorfällen gekommen ist, desto eher wird nach den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls von einer Unzumutbarkeit des weiteren Zusammenlebens auszugehen sein. Je leichtere Folgen das Verhalten des Antragsgegners gezeitigt hat, je länger es ohne weitere "einschlägige" Vorkommnisse zurückliegt und je mehr sich der Antragsgegner in der Folge bewährt hat, desto eher wird man dem betroffenen Ehegatten das weitere Zusammenleben zumuten können. Richtig ist nun, dass auch das Milieu, wenngleich nicht iSd gesellschaftlichen Stellung der Eheleute, kommt doch Gewalt in der Familie in allen gesellschaftlichen Schichten vor, sondern in dem Sinn maßgeblich ist, unter welchen konkreten Lebensumständen die Eheleute miteinander leben. Dazu gehört auch die Persönlichkeit beider Ehegatten. In diesem Zusammenhang kann bei bloß singulären Vorfällen in einem gewissen Umfang der Provokation durch den Angegriffenen oder Bedrohten Bedeutung zukommen.

Jegliche Gewalt in Ehe und Familie ist prinzipiell verpönt. Grundsätzlich kann daher gewalttätiges Verhalten eines Ehegatten nicht als "Entgleisung" entschuldigt oder mit einer "Provokation" des anderen Ehegatten gerechtfertigt werden. Davon könnte nur dann eine Ausnahme gemacht werden, wenn es sich - etwa iZm der Verletzung, die die Beklagte dem Kläger zufügte - um einen bloß singulären Vorfall handelte, der durch erhebliche Provokationen des Klägers mitverursacht wurde.