28.10.2010 Verfahrensrecht

OGH: Verfahren über die Obsorge - § 107 Abs 1 AußStrG und Brüssel IIa-VO

Das Obsorgedekret nach § 107 Abs 1 Z1 2. Fall AußStrG ist nur dann eine Amtsbestätigung über aktenmäßig bei Gericht bekannte Tatsachen, wenn die Obsorgeverteilung zwischen den Eltern unstrittig ist; Verfahren über den Rechtsschutzantrag auf Ausstellung einer Amtsbestätigung nach § 107 AußStrG fallen in den Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO


Schlagworte: Außerstreitrecht, Familienrecht, Obsorge, Amtsbestätigung, Rechtsschutzantrag, internationale Zuständigkeit
Gesetze:

§ 107 AußStrG, Brüssel IIa-VO

GZ 4 Ob 82/10b, 13.07.2010

Die Minderjährigen lebten bis Dezember 2008 mit ihren Eltern im gemeinsamen Haushalt in Frankreich und wurden sodann von der Mutter ohne Zustimmung des Vaters nach Österreich verbracht.

Das Erstgericht hat einen Antrag der Mutter, eine Amtsbestätigung nach § 107 AußStrG darüber auszustellen, dass ihr hinsichtlich der beiden Minderjährigen die alleinige Obsorge zustehe, zurückgewiesen und ausgesprochen, dass es zur weiteren Führung der Pflegschaftssache international unzuständig ist.

OGH: Das Obsorgedekret nach § 107 Abs 1 Z 1 2. Fall AußStrG ist nur dann eine Amtsbestätigung über aktenmäßig bei Gericht bekannte Tatsachen, wenn die Obsorgeverteilung zwischen den Eltern unstrittig ist. Soll eine ex lege bestehende Obsorgeverteilung in einem Fall urkundlich bestätigt werden, in dem die Eltern unterschiedlicher Auffassung sind und jeder Elternteil für sich ein bestehendes Teil- bzw Mit-Obsorgeverhältnis in Anspruch nimmt, kann nicht mehr lediglich von einer Amtsbestätigung gesprochen werden. Inhaltlich wird in einem solchen Fall über einen Rechtsschutzantrag entschieden, der dahin lautet, festzustellen, wer von den Elternteilen - allenfalls in welchem Ausmaß - tatsächlich ex lege mit der Obsorge betraut ist. Ein derartiges feststellendes Obsorgedekret ist nicht mit einer (rechtsgestaltenden) Entscheidung über die Regelung der Obsorge (§ 176 ABGB, § 177a ABGB, § 177 ABGB) zu verwechseln. Dennoch sind regelmäßig die diese Obsorgeverfahren regelnden Bestimmungen, insbesondere die Anfechtungsmöglichkeiten, zu berücksichtigen.

Die Brüssel IIa-VO gilt nach ihrem Erwägungsgrund 5 für alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, einschließlich der Maßnahmen zum Schutz des Kindes, um die Gleichbehandlung aller Kinder sicherzustellen. Nach dieser umfassenden Zielsetzung besteht kein Zweifel, dass jedenfalls dann, wenn - wie hier - kein Einvernehmen zwischen den Eltern über die Obsorgeverteilung besteht, auch Verfahren über den Rechtsschutzantrag auf Ausstellung einer Amtsbestätigung nach § 107 AußStrG als in den Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO fallende Obsorgeverfahren zu beurteilen sind.

Die angefochtene Entscheidung geht somit zutreffend davon aus, dass für die Beurteilung der Zuständigkeit für den verfahrenseinleitenden Antrag Art 10 Brüssel IIa-VO (Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung) maßgeblich ist. Da keine der Alternativen dieser Bestimmung vorliegt, die zu einer Zuständigkeit der österreichischen Gerichte führen kann, sind (nur) die französischen Gerichte weiterhin für alle Entscheidungen betreffend die elterliche Verantwortung zuständig.

Entgegen der Auffassung der Mutter ist eine Anwendung des Art 15 Brüssel IIa-VO ausgeschlossen. Die Möglichkeit der Verweisung an ein anderes Gericht kommt nach dieser Bestimmung nur dem Gericht jenes Mitgliedstaates zu, das in der Hauptsache zuständig ist. Das verweisende Gericht muss daher nach Art 8 bis 14 Brüssel IIa-VO international zuständig sein. Dies sind im Anlassfall die französischen Gerichte.