14.06.2007 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Die Fähigkeit der dementen Klägerin, sich - wenn auch unter Begleitung - selbständig auf den eigenen Beinen fortzubewegen, schließt einen Anspruch auf Stufe 7 aus, weil sie zumindest ihre Beine noch so sinnvoll und nutzbringend einsetzen kann, dass eine Erleichterung der Pflege durchaus erkennbar ist


Schlagworte: Sozialrecht, Pflegegeld, Stufe 7, Demenz
Gesetze:

§ 4 Abs 2 BPGG

In seinem Erkenntnis vom 17.04.2007 zur GZ 10 ObS 5/07v hat sich der OGH mit der Frage befasst, ob einer völlig dementen, aber mobilen Pflegebedürftigen Pflegegeld der Stufe 7 zusteht:

Bei der Klägerin liegt eine schwere Demenz mit vollständigem Selbständigkeitsverlust vor. Sie ist völlig desorientiert und erkennt ihre Angehörigen nicht mehr. Sie kommt Aufforderungen nicht nach und ist zu eigenständigen vernünftigen Handlungen nicht mehr fähig. Durch einen ausgeprägten Wandertrieb besteht erhöhter Pflegebedarf. Die Klägerin wird täglich mehrmals meist vergeblich auf das WC gesetzt. Im Fall von Stuhlgang muss sie gereinigt werden. Selbständig würde sie nicht auf die Toilette gehen, die sie auch selbst nicht finden würde. Sie ist nicht in der Lage, bei der täglichen Körperpflege und beim An- und Auskleiden selbst mitzuwirken. Die Klägerin ist nicht bettlägerig. Sie ist mobil, findet sich aber nirgends zurecht und bedarf wegen der völligen Desorientiertheit sowohl im Haus als auch außerhalb einer Begleitperson. Wegen der Umtriebigkeit und der damit verbundenen Eigengefährdung ist eine Beaufsichtigung der Klägerin bei Tag und Nacht dauernd erforderlich. Die Klägerin kann zwar gehen, irrt aber ziellos umher. Willentlich geplante und gesteuerte Bewegungen sind nicht möglich. Sie kann auch nicht Anforderungen willentlich und Vernunft getragen Folge leisten.

Dazu der OGH: Nach der Rechtsprechung des OGH wird für die Unmöglichkeit zielgerichteter Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung (§ 4 Abs 2 Stufe 7 Z 1 BPGG) verlangt, dass ein Pflegebedürftiger zu keinerlei willentlich gesteuerten Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann, in der Lage ist. Der Zustand muss in seinen funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommen. Für die Stufe 7 ist nicht erforderlich, dass der pflegebedürftige Mensch zielgerichtete Bewegungen noch zur Vornahme einer Betreuungs- und Hilfsverrichtung iSd §§ 1 und 2 EinstVO setzen kann. In der höchstgerichtlichen Rechtsprechung wurde eine die Pflegegeldstufe 7 ausschließende Beweglichkeit vor allem dann angenommen, wenn aktive Bewegungen ausgeführt werden können, durch die die Betreuung insgesamt etwas vereinfacht wird, weil nicht unbedingt jemand permanent in der Nähe des Betroffenen sein muss bzw der Betroffene nicht ständig unter Beobachtung gehalten werden muss. In diesem Sinn hat der OGH ausgesprochen, dass bloße Massenbewegungen im Sinn von primitiven, frühkindlichen Reflexen mit den oberen Extremitäten und nicht zielgerichtete Abwehrbewegungen, die zufällig ihr Ziel erreichen, mangels willentlicher Steuerung der noch möglichen Bewegungsabläufe einen Anspruch auf Stufe 7 nicht ausschließen. Gleiches gilt selbst für willentlich gesteuerte, zielgerichtete Bewegungen dann, wenn durch sie der Pflegeaufwand nicht vermindert oder die Pflege nicht erleichtert wird, die Restbeweglichkeit sohin nicht nutzbringend eingesetzt werden kann, wie dies beispielsweise der Fall ist, wenn der Pflegebedürftige Arme und Beine bloß anheben und ausstrecken oder mit einem Strohalm oder einer Schnabeltasse trinken kann, ohne aber das Trinkgefäß selbständig ergreifen zu können.

Schon die Fähigkeit der dementen Klägerin, sich - wenn auch unter Begleitung - selbständig auf den eigenen Beinen fortzubewegen, schließt einen Anspruch auf Stufe 7 aus, weil sie zumindest ihre Beine noch so sinnvoll und nutzbringend einsetzen kann, dass eine Erleichterung der Pflege durchaus erkennbar ist (etwa beim Aufsuchen des WC). Die Klägerin bewegt sich und wird nicht bewegt. Die festgestellte Umtriebigkeit der Klägerin setzt voraus, dass sie gehen will und kann und sich nicht bloß reflexhaft ohne Zielrichtung bewegt. Das Gehen selbst ist die funktionelle Umsetzung der Beinbewegungen und keine ungesteuerte Bewegung der Beine. Die Annahme eines gleichzuachtenden Zustandes (§ 4 Abs 2 Stufe 7 Z 2 BPGG) scheidet schon begrifflich dann aus, wenn - wie im vorliegenden Verfahren - zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung noch möglich und tatsächlich auch noch im Sinne einer Vereinfachung der Pflege ausgeführt werden können.