25.11.2010 Wirtschaftsrecht

OGH: Geldbußenbemessung nach § 30 KartG iZm der "Kronzeugenregelung" des § 11 Abs 3 WettbG - ist das Kartellgericht befugt, im Rahmen der Bemessung der Geldbuße eine fehlerhafte Anwendung des § 11 Abs 3 WettbG durch die BWB zu korrigieren und den Kronzeugenstatus als wesentlichen Milderungsgrund zu berücksichtigen?

§ 11 Abs 3 WettbG richtet sich an die Bundeswettbewerbsbehörde und bestimmt das ihr offen stehende Ermessen bei der Behandlung von Kronzeugen; die richtige Anwendung dieser Bestimmung durch die Verwaltungsbehörde unterliegt zwar keiner unmittelbaren Überprüfung durch das Kartellgericht, dieses hat jedoch bei Bemessung der Geldbuße die Mitwirkung eines betroffenen Unternehmens an der Aufklärung der Rechtsverletzung sowohl gegenüber der Bundeswettbewerbsbehörde, als auch gegenüber dem Kartellgericht nach eigenem Ermessen als Milderungsgrund (§ 30 zweiter Satz KartG) zu berücksichtigen


Schlagworte: Kartellrecht, Geldbußen, Bemessung, Milderungsgrund, Kronzeuge, Bundeswettbewerbsbehörde, Kartellgericht
Gesetze:

§ 29 KartG, § 30 KartG, § 11 Abs 3 WettbG

GZ 16 Ok 5/10, 04.10.2010

OGH: Nach Auffassung des Senats besteht keine unmittelbare Kompetenz des Kartellgerichts zur Überprüfung fehlerhafter Entscheidungen der BWB bei Anwendung des § 11 Abs 3 WettbG. Diese Bestimmung richtet sich grundsätzlich an die BWB und regelt deren Befugnis als Amtspartei; sie dient als investigatives Instrument der Aufdeckung wettbewerbswidrigen Verhaltens. Eine unmittelbare Kompetenz für ein gerichtliches Tätigwerden ist ihr nicht zu entnehmen.

Auf § 11 Abs 3 WettbG beruhende Entscheidungen der Verwaltungsbehörde BWB setzen zwar zufolge des kartellrechtlichen Antragsprinzips (§ 36 Abs 1 KartG) den rechtlichen Rahmen für die nachfolgende (autonome) Geldbußenentscheidung des Kartellgerichts fest, sie können aber mangels einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen nicht per se Gegenstand der richterlichen Kontrolle sein.

Über Bestehen und Auswirkungen dieses Milderungsgrundes entscheidet das Kartellgericht nach eigenem Ermessen, ohne an die im BWB-Kronzeugen-Handbuch (§ 11 Abs 4 WettbG) veröffentlichten Abschläge gebunden zu sein, weil ja der BWB-Antrag nur die Obergrenze für die gerichtliche Zumessung bildet (§ 36 Abs 2 Satz 2 KartG). Auf diese Weise fließen die § 11 Abs 3 WettbG zugrunde liegenden Wertungen mittelbar auch in die gerichtliche Entscheidung ein.

Die Mitwirkung an der Aufklärung der Rechtsverletzung als Milderungsgrund (§ 30 zweiter Satz KartG) kommt jenem Unternehmen zugute, das sich gegenüber den Kartellbehörden kooperativ verhält, sie bei ihren Aufgaben unterstützt und damit im Ermittlungsverfahren einen spürbaren Beitrag zur Aufklärung der Zuwiderhandlung leistet. Die vom betreffenden Unternehmen gelieferten Informationen und sein sonstiges Verhalten müssen als Zeichen einer echten Zusammenarbeit angesehen werden können. In Anlehnung an die europäische Praxis von Kommission und Gerichtshof sind Reduktionen je nach Zeitpunkt und Grad der Mitwirkung zwischen 20 % und 50 % von der sonst zu verhängenden Geldbuße zu gewähren. Mehrere Verfahrensbeteiligte, die gleichermaßen zur Aufklärung beitrugen, sind gleich zu behandeln, sonst ist nach dem Aufklärungsbeitrag abzustufen. Liegen die Voraussetzungen nach § 11 Abs 3 WettbG vor, ist trotz gegenteiligen Antrags der BWB gegebenenfalls keine (oder eine entsprechend geminderte) Geldbuße zu verhängen.

Die Dauer einer Zuwiderhandlung ist ein wesentliches Beurteilungskriterium, und es kann als mildernder Umstand berücksichtigt werden, wenn ein Unternehmen die Kartellbehörden darauf hinweist, dass ein Kartell länger gedauert hat als bisher angenommen. Unterbleibt ein solcher Hinweis, kann von einer umfassenden Mitwirkung an der Aufklärung ohne jeden Vorbehalt (die allenfalls den gänzlichen Entfall einer Geldbuße rechtfertigen könnte) keine Rede sein.

Die vom Kartellgericht angewendete Bemessungsmethode (Festlegung eines Grundbetrags der Geldbuße nach der Schwere des Verschuldens und der Verstöße, Aufschlag für die Dauer des Verstoßes, Berücksichtigung von Milderungsgründen durch Abschläge) folgt einem im europäischen Kartellrecht entwickelten mehrstufigen Verfahren, das der Senat als grundsätzlich geeignet beurteilt hat, eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Geldbuße zu ermitteln.

Der Senat hat aber auch schon wiederholt betont, dass das Geldbußensystem des Gemeinschaftsrechts mit jenem des nationalen Rechts nicht deckungsgleich ist, weshalb die europäischen Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen (Geldbußenleitlinien 2006) und die darauf beruhende Entscheidungspraxis der europäischen Kartellbehörden im Verfahren über eine vom Kartellgericht nach nationalem Recht zu verhängende Geldbuße nur in jenem Umfang sinngemäß angewendet werden können, in dem die entsprechenden Normen und die ihnen zugrunde liegenden Wertungen vergleichbar sind.

So wird nach den Geldbußenleitlinien 2006 (Z 25) und in der Entscheidungspraxis der Kommission der umsatzorientierte Grundbetrag im Einzelfall durch einen "Abschreckungszuschlag" erhöht, der bis zu 100 % erreichen kann. Eine vergleichbare Praxis ist der BWB fremd.

Auch sind die Bemessungskriterien der Bereicherung, des Verschuldens und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht in der VO 1/2003 genannt und spielen in den Geldbußenleitlinien 2006 nur eine untergeordnete Rolle, während sie in § 30 KartG ausdrücklich genannt werden und daher vom Kartellgericht ohne europarechtliche Vorgaben anzuwenden sind. Eine schematische Anwendung der Leitlinien oder der Entscheidungspraxis der europäischen Kartellbehörden auf nach nationalem Recht zu verhängende Geldbußen ist daher nicht gerechtfertigt.

Dazu kommt, dass auch nach Auffassung der Kommission die europäischen Bußgeldvorschriften einer mechanischen Anwendung entzogen sind und eine einzelfallbezogene Betrachtung erfordern. Es ist deshalb schon im Ansatz verfehlt, im jeweiligen Einzelfall nach Unionsrecht bestimmte Grundbeträge von Geldbußen mit dem im Anlassfall im Rahmen der Bemessung nach nationalem Recht herangezogenen Grundbetrag zu vergleichen.

Die Kontrolle der Höhe einer Geldbuße im Rechtsmittelverfahren richtet sich darauf, inwieweit das Kartellgericht rechtlich korrekt alle gesetzlichen Faktoren berücksichtigt hat, die für die Beurteilung der Schwere eines bestimmten Verhaltens von Bedeutung sind.

Dass den Unternehmen, die den Kartellbehörden den ersten Hinweis auf das Kartell gegeben und es als erstes in Teilen aufgedeckt und zugestanden haben, die höchste Geldbuße auferlegt worden ist, liegt nicht - wie das Rechtsmittel beanstandet - an einer willkürlichen oder gleichheitswidrigen Ermessensausübung, sondern ist darauf zurückzuführen, dass die Rechtsmittelwerber die größten am Kartell beteiligten Unternehmen waren und ihr Zuwiderhandeln (zusammen mit jenem der DrittAG) am längsten angedauert hat; beide Umstände schlagen sich bei der vom Kartellgericht angewendeten Bemessungsmethode (ein umsatzbezogener Grundbetrag wird um einen Faktor, der von der Dauer des Verstoßes abhängt, erhöht) naturgemäß in der absoluten Höhe der Geldbuße nieder.

Richtig ist, dass der räumliche Umfang des betroffenen Markts, die kumulierten Marktanteile der beteiligten Unternehmen, die Art des Verstoßes und der Grad des Verschuldens wichtige Bemessungsfaktoren für die Höhe der Geldbuße sind.

Die Tatsache, dass es sich nach der Angabe der DrittAG um ihre erste Zuwiderhandlung handelte, hat das Kartellgericht zutreffend nicht als Milderungsgrund berücksichtigt, soll doch das Fehlen einer früheren Zuwiderhandlung der Normalfall sein.