03.03.2011 Wirtschaftsrecht

OGH: Unrichtige Wiedergabe der Verhältnisse der Gesellschaft / Verschweigen erheblicher Umstände - zur Strafbarkeit der Organe nach § 255 Abs 1 Z 1 AktG

Bloß geringfügige Fehlinformationen, die ungeeignet sind, das Bild der Gesamtlage der Gesellschaft - das in der Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens zum Ausdruck kommt - und ihrer Entwicklung aus Sicht der in Betracht kommenden internen (bei der AG insbesondere des Aufsichtsrats) und externen Mitteilungsadressaten maßgeblich zu beeinflussen, erfüllen den objektiven Tatbestand des § 255 Abs 1 AktG noch nicht


Schlagworte: Gesellschaftsrecht, Aktiengesellschaft, Strafbarkeit der Organe, unrichtige Wiedergabe der Verhältnisse der Gesellschaft, Verschweigen erheblicher Umstände, Bilanz
Gesetze:

§ 255 Abs 1 AktG

GZ 14 Os 143/09z, 23.12.2010

OGH: Mit dem - für das Bilanzjahr 2000 mit Wirkung auch für die Bilanzjahre 2001 bis 2003 erhobenen - Einwand unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Frage der Wesentlichkeit (der Bilanzierungsfehler) zeigt die Rechtsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO) zutreffend auf, dass aus den einen Schuldspruch nach § 255 Abs 1 Z 1 AktG tragenden Konstatierungen erkennbar sein muss, ob und aus welchen Gründen durch die angelasteten Taten - hier durch eine überhöhte Bewertung von Forderungen sowie durch Heranziehung einer falschen Eröffnungsbilanz und unrichtige Darstellung von Forderungen - die "Verhältnisse der Gesellschaft" unrichtig wiedergegeben oder "erhebliche Umstände" verschwiegen wurden.

Tatbestandsmäßig nach § 255 Abs 1 Z 1 AktG handelt, wer - soweit hier relevant - als Mitglied des Vorstands (seit 1. Jänner 2001 auch als Beauftragter) insbesondere im Jahresabschluss die Verhältnisse der Gesellschaft unrichtig wiedergibt oder erhebliche Umstände verschweigt.

Unter den Verhältnissen der Gesellschaft sind nach hM alle für die Gesellschaft und ihre Entwicklung relevanten Belange zu verstehen, insbesondere (aber nicht nur) ihre finanzielle Situation sowie ihre Wettbewerbsfähigkeit und andere grundsätzliche Aspekte. Nach den Gesetzesmaterialien zum FMAG (BGBl I 2001/97) sollen "einzelne unwesentliche Fragen" nicht strafbar sein, sondern nur solche Fehlinformationen, die die Funktion der Berichterstattung oder Auskunft gefährden, namentlich wenn sie für die Beurteilung etwaiger Risiken der Vermögens- oder Ertragslage, der Rentabilität oder Liquidität oder der Vertrauenswürdigkeit des Vorstands oder des Aufsichtsrats von erheblicher Bedeutung sind. In gleicher Weise ist nach den Materialien die Erheblichkeit von verschwiegenen Umständen zu beurteilen. Unerhebliche Umstände, die den Zweck und Wert des Berichts oder der Auskunft nicht in einem solchen maßgeblichen Umfang zu beeinträchtigen vermögen, sollen von der Strafbestimmung nicht erfasst sein.

Strafbar nach § 255 Abs 1 AktG sind demnach erhebliche (wenn auch bloß einzelne Geschäftsfälle betreffende) Darstellungsmängel. Das Gesetz stellt auf "erhebliche Umstände" und die "Verhältnisse" der Gesellschaft ab, womit belanglose Nebensächlichkeiten außer Acht zu lassen und die wesentlichen Bedingungen und Gegebenheiten der Gesellschaft - insbesondere (aber nicht nur) unter Beachtung ihrer wirtschaftlichen Eckdaten - in den Blick zu nehmen sind (wobei das im Gesetz erwähnte Verschweigen "erheblicher Umstände" nur als ein zur Klarstellung hervorgehobener Unterfall der unrichtigen Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft anzusehen ist und sich die Kriterien der Wesentlichkeit bzw der Erheblichkeit insoweit inhaltlich decken). Bloß geringfügige Fehlinformationen, die ungeeignet sind, das Bild der Gesamtlage der Gesellschaft - das in der Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens zum Ausdruck kommt - und ihrer Entwicklung aus Sicht der in Betracht kommenden internen (bei der AG insbesondere des Aufsichtsrats) und externen Mitteilungsadressaten maßgeblich zu beeinflussen, erfüllen daher den objektiven Tatbestand noch nicht.

Die unrichtige Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaften erfolgte fallaktuell in Jahres- und Konzernabschlüssen. Diese haben (nach §§ 195, 222 Abs 2 sowie 250 Abs 2 und Abs 3 UGB, vormals HGB) den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung zu entsprechen und - im Rahmen der allgemeinen Bewertungsvorschriften des UGB (§§ 201 ff) sowie unter Beachtung allenfalls in Betracht kommender Sondervorschriften (hier insbesondere §§ 43 ff BWG) - ein möglichst getreues Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens zu vermitteln, wobei im Jahresabschluss nur wesentliche, also nur solche Umstände offenzulegen sind, die dem Informationsadressaten für die Entscheidungsfindung nützlich sind oder sein können.

Während die Frage der Einhaltung der (teilweise gesetzlich verankerten, teilweise nicht kodifizierten) Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung - einschließlich des Prinzips der Wesentlichkeit ("materiality"), nach dem zu beurteilen ist, welche Tatbestände im prüfungsbezogenen Jahresabschluss überhaupt offenzulegen sind - vorwiegend auf der Tatsachenebene (in aller Regel durch Beiziehung eines Sachverständigen) zu klären ist, handelt es sich bei der oben dargelegten Relevanzprüfung, nämlich bei der Einschätzung, ob ein solcherart festgestellter Darstellungsmangel auch erheblich (wesentlich) iSd § 255 Abs 1 AktG ist, um eine Rechtsfrage, die als Basis freilich auch - der Tatsachenebene zugehörige - Konstatierungen über das Ausmaß der fehlerhaften Information erfordert, um deren Einfluss auf das damit vermittelte Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft abschätzen zu können.

Ein Wertberichtigungsbedarf in dreistelliger Millionenhöhe (in Euro) ist jedenfalls - auch bei Unternehmen mit überdurchschnittlich hohen Bilanz- oder Eigenkapitalsummen oder mit besonders hohem Jahresertrag - geeignet, die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der zu beschreibenden Gesellschaft erheblich verzerrt darzustellen.

Starre Prozentsätze, wie sie die Rüge - ua unter Hinweis auf die Nichtigkeit des Jahresabschlusses nach § 202 Abs 1 AktG betreffende Literatur - verlangt (und wie sie nach deutscher Rechtslage zur deutlichen Abgrenzung verschiedener Strafnormen auch erforderlich sein mögen), lassen sich mit dem Gesetzestext des § 255 Abs 1 Z 1 AktG oder mit der aus den Materialien ersichtlichen Absicht des Gesetzgebers nicht vereinbaren. Dazu ist der Vollständigkeit halber anzumerken, dass Strafbarkeit nach § 255 Abs 1 Z 1 AktG Nichtigkeit des Jahresabschlusses iSd § 202 Abs 1 AktG (insbesondere nach Z 2) nicht voraussetzt. Denn ein Jahresabschluss ist gem § 202 Abs 1 Z 2 AktG dann nichtig, wenn er mit dem Wesen der AG unvereinbar ist oder durch seinen Inhalt Vorschriften verletzt werden, die ausschließlich oder überwiegend zum Schutz der Gläubiger der Gesellschaft oder sonst im öffentlichen Interesse gegeben sind (wobei auch hier nur solche Verletzungen zur Nichtigkeit führen sollen, die wesentlich, dh die auf Unrichtigkeiten oder Verstöße zurückzuführen sind, die wegen ihrer Größenordnung oder Bedeutung einen Einfluss auf den Aussagewert der Rechnungslegung für die Abschlussadressaten haben, und andererseits Unwesentlichkeit dann anzunehmen ist, wenn trotz Nichteinhaltung gesetzlicher Vorschriften die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage des Unternehmens nicht verzerrt dargestellt wird). Demgegenüber hat die Strafnorm des § 255 Abs 1 Z 1 AktG - die darauf abstellt, dass die Verhältnisse der Gesellschaft vom Täter unrichtig dargestellt wurden - einen breiteren Anwendungsbereich (wobei im Zuge der Beurteilung der Erheblichkeit bzw Wesentlichkeit grundsätzlich in beiden Fällen auf die selben hinter der Gesellschaft stehenden und aus § 70 Abs 1 AktG ersichtlichen Interessen und Werte abzustellen ist, nämlich auf das Wohl des Unternehmens, die Interessen der Aktionäre und der Arbeitnehmer sowie das öffentliche Interesse, und eine falsche Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft dann als wesentlich bzw als erheblich gewertet werden kann, wenn sie abstrakt geeignet ist, diese Interessen zu berühren oder zu beeinträchtigen).

Aus Gründen der Vollständigkeit ist schließlich anzumerken, dass das Vergehen nach § 255 Abs 1 Z 1 AktG vom Verbrechen der Untreue (hier nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB) nicht verdrängt wird, hier insbesondere keine typische, regelmäßig mit der Begehung einer Untreue verbundene Begleittat oder eine gegen dasselbe Rechtsgut gerichtete straflose Nachtat vorliegt.