18.09.2008 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: § 255 Abs 3 ASVG - generelle Unzumutbarkeit des Wochenpendelns bei Versicherten, denen nur mehr eine Halbzeitbeschäftigung in Billiglohnbranchen möglich ist?

Mit Rücksicht auf den durch die mögliche Teilzeitbeschäftigung erzielbaren geringeren Lohn kann eine Unzumutbarkeit eines Umzugs oder eines Wochenpendelns gegeben sein


Schlagworte: Sozialrecht, Invalidität, Teilzeit, Umzug, Wochenpendeln, Unzumutbarkeit
Gesetze:

§ 255 Abs 3 ASVG

GZ 10 ObS 83/08s, 26.06.2008

Der Kläger ist noch in der Lage, einen Vier-Stunden-Tag und eine 20-Stunden-Woche einzuhalten. Das Vorliegen der Invalidität ist unstrittig nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen.

Die beklagte Partei macht geltend, § 255 Abs 3 ASVG erlaube nicht, bei der Beurteilung der Verweisbarkeit wirtschaftliche oder persönliche Kriterien des Versicherten, vor allem den Wohnsitz und familiäre oder soziale Bindungen, einfließen zu lassen. Die Frage der Lohnhälfte bleibe von der Frage der Zumutbarkeit eines Umzugs oder des Wochenpendelns unberührt.

OGH: § 255 Abs 3 ASVG stellt in Bezug auf die zumutbare Entgelthöhe im Verweisungsberuf nur auf die gesetzliche Lohnhälfte als Mindesteinkommensgrenze ab. Völlig unabhängig von der Beurteilung der Invalidität wird ein aus sozialen Gründen notwendiges Mindesteinkommen eines Versicherten erst durch die Ausgleichszulage bewerkstelligt, die einen Pensionsanspruch voraussetzt.

Betreffend die "gesetzliche Lohnhälfte" ist als Vergleichsmaßstab der übliche Verdienst heranzuziehen, den ein gesunder Versicherter durch die Verweisungstätigkeit als Vollzeitbeschäftigter regelmäßig in der Normalarbeitszeit erzielen kann. Der an dieser Entgelthöhe zu messenden vollen Arbeitsfähigkeit der typisierten Vergleichsperson ist sodann die nach denselben Kriterien zu messende individuelle Arbeitsfähigkeit des Versicherten gegenüberzustellen.

Soweit der auf den allgemeinen Arbeitsmarkt für gesunde Versicherte regelmäßig erzielbare (durchschnittliche) Verdienst in Kollektivverträgen festgelegt ist, sind die danach zustehenden Löhne auch dann als Vergleichsmaßstab heranzuziehen, wenn in Einzelfällen höhere Verdienste erreicht werden. Werden jedoch in den in Betracht kommenden Berufsgruppen regelmäßig über den Tariflöhnen liegende Entgelte bezahlt, sind diese - ausgehend von dem in der Normalarbeitszeit erzielten Durchschnittsverdienst - zugrunde zu legen.

Der OGH teilt die Auffassung, dass einem Versicherten, der nur noch Teilzeit arbeiten kann, in der Regel ein Umzug oder ein Wochenpendeln nicht zuzumuten sei und es infolge dessen nur auf den regionalen Arbeitsmarkt ankomme, den der Versicherte durch tägliches Pendeln von seiner Wohnung aus erreichen könne, in dieser Allgemeinheit nicht. Dies beruht auf der Erwägung, dass das Verweisungsfeld und die Anforderungen, die mit der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit auch bezüglich der Erreichung des Arbeitsplatzes verbunden sind, in der Regel an den Verhältnissen des gesamten Arbeitsmarkts gemessen werden. Nur auf diese Weise ist nämlich eine gleiche Beurteilung in allen Fällen sichergestellt. Die Lage des Wohnorts im Einzelfall bildet ein persönliches Moment, das bei der Prüfung der Invalidität außer Betracht zu bleiben hat, weil es andernfalls einem Versicherten möglich wäre, durch die Wahl seines Wohnorts die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pensionsleistung zu beeinflussen. Ist ein Versicherter imstande, die unter den üblichen Bedingungen erforderlichen Anmarschwege zurückzulegen, so liegt unabhängig von der Lage seines Wohnorts in einem konkreten Fall ein Ausschluss vom Arbeitsmarkt aus diesem Grund nicht vor, mögen auch die gesundheitsbedingten Einschränkungen seiner Leistungsfähigkeit einer täglichen Zurücklegung des Wegs zwischen Arbeitsplatz und diesem Wohnort entgegenstehen. In diesem Fall ist grundsätzlich vom Versicherten zu verlangen, dass er - sofern nicht medizinische Gründe dem entgegenstehen - durch entsprechende Wahl seines Wohnorts, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herstellt, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind. Diese Grundsätze gelten in der Regel auch für die Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze.

Die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung vermag der OGH insbesondere auch deshalb nicht zu teilen, weil es für die "gesetzliche Lohnhälfte" iSd § 255 Abs 3 ASVG nur auf die gesetzliche Mindesteinkommensgrenze ankommt, die je nach Verweisungsberuf schwanken kann, ohne das Bedürftigkeitskriterien eine Rolle spielen. Dies schließt im Einzelfall nicht aus, dass mit Rücksicht auf den durch die mögliche Teilzeitbeschäftigung erzielbaren geringeren Lohn eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln nicht zumutbar sein können.

Ob im Anlassfall eine Unzumutbarkeit eines Umzugs oder eines Wochenpendelns für den Kläger gegeben ist, lässt sich demnach erst beantworten, wenn feststeht, welches Erwerbseinkommen der Kläger mit seinem eingeschränkten Leistungskalkül durch eine Halbtagsbeschäftigung in den Verweisungsberufen - einschließlich Sonderzahlungen und anderen regelmäßigen Gehaltsbestandteilen - konkret erreichen kann.

Die Frage der Zumutbarkeit einer Wohnsitzverlegung oder eines Wochenpendelns würde sich gar nicht stellen, wenn auf dem regionalen Arbeitsmarkt, den der Kläger durch tägliches Pendeln von seiner Wohnung aus erreichen kann, in den seiner Arbeitsfähigkeit angemessenen Verweisungsberufen eine solche Anzahl von - offenen oder besetzten - Stellen gegeben ist, die die Annahme rechtfertigen, dass ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen kann. Jedenfalls dann, wenn auf einem regional begrenzten, durch Tagespendeln erreichbaren Arbeitsmarkt 40 Arbeitsplätze vorhanden sind, liegt eine so nennenswerte Zahl von Stellen vor, dass eine für die Verweisbarkeit ausreichende Nachfrage nach Arbeitskräften gewährleistet ist.