01.07.2010 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld einer türkischen Asylwerberin?

Haben Asylwerber aufgrund einer ihnen erteilten Arbeitserlaubnis Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt und damit zu den Systemen der sozialen Sicherheit gefunden, unterliegen sie dem Schutz des ARB 3/80; dass die Klägerin selbst keine Arbeitnehmerin ist, sondern nur ihr Ehemann, schließt den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht aus


Schlagworte: Kinderbetreuungsgeld, türkische Asylwerberin, Familienleistung
Gesetze:

KBGG, Arb 3/80

GZ 10 ObS 168/09t, 04.05.2010

OGH: Nach der Judikatur des VwGH und in vergleichbarer Weise des deutschen Bundesverwaltungsgerichts und des Bundessozialgerichts ist es für den persönlichen Anwendungsbereich des ARB 3/80 ohne Belang, ob der türkische Staatsangehörige als Wanderarbeitnehmer nach Österreich eingereist ist oder als Asylwerber. Folglich ist es auch unbeachtlich, wann der türkische Staatsangehörige die Arbeitnehmereigenschaft in Österreich begründet hat.

Gerade aus der Entscheidung des EuGH in der Rs Sürül (C-262/96) ist zu schließen, dass nicht nur solche Personen vom persönlichen Geltungsbereich des ARB 3/80 erfasst sind, die mit einer vorherigen Einreiseerlaubnis in einen Mitgliedsstaat eingereist sind; entscheidend ist vielmehr die rechtmäßige Beschäftigung im Mitgliedsstaat. Haben demnach Asylwerber aufgrund einer ihnen erteilten Arbeitserlaubnis Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt und damit zu den Systemen der sozialen Sicherheit gefunden, unterliegen sie dem Schutz des ARB 3/80.

An der Arbeitnehmereigenschaft des Ehemannes der Klägerin ist nicht zu zweifeln. Dass die Klägerin selbst keine Arbeitnehmerin ist, sondern nur ihr Ehemann, schließt den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht aus. In den Rs C-245/94, Hoever, und Rs C-312/94, Zachow, hat der EuGH am 10. 10. 1996 entschieden, dass der Bezug von Familienleistungen nicht davon abhängt, welcher Familienangehörige nach den nationalen Vorschriften diese Leistung beanspruchen kann. Es ist unerheblich, ob der berechtigte Arbeitnehmer oder Familienangehöriger eines Arbeitnehmers ist. Eine Familienleistung kann dem Ehegatten nicht aufgrund der Unterscheidung zwischen eigenen Rechten des Arbeitnehmers und abgeleiteten Rechten des Familienangehörigen verweigert werden, weil diese Unterscheidung nur maßgebend ist, wenn sich ein Familienangehöriger auf Bestimmungen der VO 1408/71 beruft, die ausschließlich für Arbeitnehmer und nicht für Familienangehörige gelten.

Auch in der Rs Sürül hat der EuGH ausgesprochen, dass die Klägerin für die Zeit, in der sie nicht in einem System der sozialen Sicherheit versichert war, die Rechte geltend machen kann, die sich aus der Eigenschaft eines Familienangehörigen eines Arbeitnehmers iSd ARB 3/80 ergeben, wenn feststeht, dass ihr Ehemann auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Art 1 lit b des ARB 3/80 genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist.

Demnach ist der Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld zu bejahen, selbst wenn sie persönlich nicht (aufgrund eigener Beschäftigung) in ein System der sozialen Sicherung integriert ist, sondern ihr Ehemann.

Zum sachlichen Geltungsbereich des ARB 3/80:Auch der sachliche Geltungsbereich ist gegeben. Gem Art 1 lit a des ARB 3/80 hat der Begriff der Familienleistung dieselbe Bedeutung wie in Art 1 lit u der VO 1408/71. Danach fallen unter den Begriff der Familienleistungen alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Art 4 Abs 1 lit h der VO genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, mit Ausnahme von Geburts- oder Adoptionsbeihilfen. Art 4 Abs 1 lit h der VO 1408/71 erwähnt ebenso wie Art 4 Abs 1 lit h des ARB 3/80 Familienleistungen als eine Leistungsart im Gesamtgefüge der Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit. Es besteht kein Zweifel, dass das Kinderbetreuungsgeld zu den Familienleistungen iSv Art 4 Abs 1 lit h des ARB Nr 3/80 gehört und folglich in dessen sachlichen Geltungsbereich fällt.

Im Ergebnis sind demnach der persönliche und der sachliche Geltungsbereich des ARB 3/80 gegeben. Infolge seiner unmittelbaren Anwendbarkeit kann sich die Klägerin auf das Diskriminierungsverbot des Art 3 des ARB Nr 3/80 stützen.