26.08.2010 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Anstaltspflege iZm Alkoholisierung - zur Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers nach § 145 Abs 2 ASVG

Die Verpflichtung des Krankenversicherers zur Kostentragung nach § 145 Abs 2 ASVG tritt ein, wenn die Anstaltspflege notwendig und unaufschiebbar war; das Kriterium der Notwendigkeit und Unaufschiebbarkeit ist dann erfüllt, wenn der geistige oder körperliche Zustand einer Person wegen Lebensgefahr oder wegen Gefahr einer sonst nicht vermeidbaren schweren Gesundheitsschädigung sofortige Anstaltsbehandlung erfordert


Schlagworte: Anstaltspflege, Alkoholisierung, Asylierung, Behandlung, notwendig, unaufschiebbar
Gesetze:

§ 145 Abs 2 ASVG

GZ 10 ObS 10/10h, 01.06.2010

Die am 25. 1. 1961 geborene Klägerin ist alkoholkrank. Am 23. 9. 2007 wurde sie alkoholisiert auf der Straße vorgefunden und nach Polizeiintervention mit der Rettung in das Krankenhaus Wien-Hietzing gebracht. Dort wurde sie stationär auf der Erstversorgungsabteilung aufgenommen, verweigerte jedoch sämtliche Untersuchungen. Medizinische Interventionen oder Behandlungen sind nicht erfolgt; eine vitale Gefährdung bestand nicht. Am Tag nach der Aufnahme hat die Klägerin im ausgenüchterten Zustand die Abteilung wieder verlassen.

Während des stationären Aufenthalts der Klägerin im Krankenhaus Wien-Hietzing vom 23. 9. bis 24. 9. 2007 wurde keine gezielte Krankenbehandlung durchgeführt; eine solche war auch nicht notwendig.

Das Erstgericht wies das Begehren der Klägerin, die beklagte Wiener Gebietskrankenkasse zu verpflichten, ihr Anstaltspflege im Krankenhaus der Stadt Wien-Hietzing für den Zeitraum vom 23. 9. bis 24. 9. 2007 zu gewähren, ab. In seiner rechtlichen Beurteilung kam das Erstgericht zum Ergebnis, der Krankenhausaufenthalt der Klägerin habe keiner notwendigen Krankenbehandlung, sondern bloß der Ausnüchterung gedient, wobei die Klägerin auch nicht behandlungsbedürftig gewesen sei. Damit liege ein Fall der Asylierung vor, der keinen Anspruch auf Anstaltspflege begründe.

OGH: Auszugehen ist davon, dass dann, wenn ein Versicherter bei Alkoholisierung lediglich der Ausnüchterung bedarf, mangels Behandlungsbedürftigkeit der Versicherungsfall der Krankheit zu verneinen ist. In diesem Fall besteht auch kein Leistungsanspruch gegenüber dem Krankenversicherungsträger aus dem Titel der Anstaltspflege, weil der Krankenhausaufenthalt nur die fehlende häusliche Pflege und Obsorge ersetzt und nicht einer erfolgversprechenden Behandlung einer Krankheit dient.

In den Entscheidungen 10 ObS 99/08v und 10 ObS 75/09s hat der OGH in Bezug auf die Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers bei einer der Ausnüchterung bedürftigen Person differenziert: Zunächst besteht ein Anspruch auf Krankenbehandlung bzw Anstaltspflege iSe Klärung des Krankheitsverdachts. Der Anspruch auf Behandlung erlischt jedoch, sobald sich herausstellt, dass lediglich ein alkoholisierter Zustand vorliegt, aufgrund dessen die Patientin allein der Ausnüchterung und keiner Krankenbehandlung bedarf. In der E 10 ObS 75/09s hat der OGH ergänzt, dass im Hinblick auf das Erfordernis der Erkennbarkeit der fehlenden Notwendigkeit ärztlicher Behandlung in sinngemäßer Anwendung des § 107 Abs 1 ASVG ein "formaler Akt" des Krankenversicherungsträgers erforderlich ist, um die krankenversicherungsrechtliche Leistung zu beenden. Dieser Hinweis, dass keine (weitere) Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers besteht, kann auch durch einen Dritten erfolgen, etwa die Krankenanstalt.

Im vorliegenden Fall ist die Klägerin zwar in stationäre Anstaltspflege aufgenommen worden, aber es sind offenbar keine medizinischen Untersuchungen an ihr vorgenommen worden.

Zu beurteilen ist im vorliegenden Fall der Anspruch der Klägerin auf Gewährung der Anstaltspflege durch den Krankenversicherungsträger (§§ 144 - 150 ASVG). Dieser Anspruch unterscheidet sich in manchen Belangen vom Anspruch auf Krankenbehandlung (§§ 133 - 137 ASVG). Befindet sich ein Versicherter in Anstaltspflege, so besteht für diese Zeit gem § 133 Abs 5 ASVG kein eigener Anspruch auf Leistungen der Krankenbehandlung, soweit die entsprechenden Leistungen nach dem KAKuG im Rahmen der Anstaltspflege zu gewähren sind. Dadurch soll ein doppelter Anspruch auf Sachleistungen ausgeschlossen werden.

Die bloß faktische stationäre Aufnahme allein begründet keine Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers für Anstaltspflege.

Gem § 144 Abs 1 ASVG ist Anstaltspflege (in der allgemeinen Gebührenklasse einer landesgesundheitsfondsfinanzierten Krankenanstalt) zu gewähren, wenn und solange es die Art der Krankheit erfordert. Ist die Anstaltspflege nicht durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingt (Asylierung), wird sie nicht auf Kosten des Krankenversicherungsträgers gewährt (§ 144 Abs 3 ASVG).

Die Abgrenzung zwischen "Behandlungsfall" und "Asylierungsfall" muss an die Voraussetzungen für das Vorliegen des Versicherungsfalls der Krankheit, dh eines die Krankenbehandlung notwendig machenden regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands anschließen. Demnach liegt ein Behandlungsfall dann vor, wenn prognostisch festgestellt werden kann, dass das beim Versicherten vorliegende Leiden einer Behandlung zugänglich ist, wenn auch nur eine geringfügige Besserung des Grundleidens erhofft wird oder wenn die Behandlung eine Verschlechterung des Zustands hintanzuhalten geeignet ist, mag auch das Grundleiden als solches nicht mehr behebbar sein. Hingegen handelt es sich um einen Asylierungs- oder Pflegefall, wenn ein Krankenhausaufenthalt nur die fehlende häusliche Pflege und Obsorge allein ersetzt und nicht mehr einer erfolgversprechenden Behandlung der Krankheit dient.

Die Klägerin wurde nicht nach § 145 Abs 1 ASVG durch den Krankenversicherungsträger in die landesgesundheitsfondsfinanzierte Krankenanstalt eingewiesen. In einem solchen Fall ist die Aufnahme in die Krankenanstalt der Einweisung gleichzuhalten, sofern die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Anstaltspflege gegeben sind (§ 145 Abs 2 ASVG). Zu diesen übrigen Voraussetzungen gehört va, dass die Art der Krankheit nicht nur Krankenbehandlung, insbesondere ärztliche Hilfe, sondern eben Anstaltspflege erfordert. Unter dem im ASVG nicht definierten Begriff "Anstaltspflege" ist die durch die Art der Krankheit erforderliche, durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingte "einheitliche und unteilbare" Gesamtleistung der stationären Pflege in einer - nicht gem § 144 Abs 4 ASVG ausgenommenen - Krankenanstalt zu verstehen. So wie die Krankenbehandlung iSd § 133 ASVG bezweckt sie die Wiederherstellung, Festigung oder Besserung der Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Selbsthilfefähigkeit, tritt aber insofern hinter die Krankenbehandlung zurück, als sie als Leistung der Krankenversicherung erst beansprucht werden kann, wenn eine ambulante Krankenbehandlung nicht mehr ausreicht, um eine Krankheit durch ärztliche Untersuchung festzustellen und sodann durch Behandlung zu bessern oder zu heilen.

In diesem Sinn tritt die Verpflichtung des Krankenversicherers zur Kostentragung nach § 145 Abs 2 ASVG ein, wenn die Anstaltspflege notwendig und unaufschiebbar war.

Das Krankenanstaltenrecht verwendet weder in der Bundesgrundsatzbestimmung des § 22 KAKuG noch in der ausführungsgesetzlichen Bestimmung im Wr KAG das Begriffspaar "notwendig und unaufschiebbar", sondern definiert die Begriffe "anstaltsbedürftig" (§ 22 Abs 3 KAKuG bzw § 36 Abs 3 Wr KAG) und "unabweisbar" (§ 22 Abs 4 KAKuG bzw § 36 Abs 4 Wr KAG). Während die Begriffe "notwendig" und "anstaltsbedürftig" als identisch angesehen werden, wird über die Frage der Deckungsgleichheit von "unaufschiebbar" und "unabweisbar" diskutiert; mögliche Abweichungen betreffen letztlich aber nur Randbereiche. Nach der Rsp kann allgemein davon ausgegangen werden, dass das Kriterium der Notwendigkeit und Unaufschiebbarkeit dann erfüllt ist, wenn der geistige oder körperliche Zustand einer Person wegen Lebensgefahr oder wegen Gefahr einer sonst nicht vermeidbaren schweren Gesundheitsschädigung sofortige Anstaltsbehandlung erfordert.

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen bestand bei der Klägerin keine "vitale Gefährdung". Aus den Feststellungen geht aber nicht hervor, ob es sich dabei um eine ex post-Beurteilung oder um die notwendigerweise anzustellende Beurteilung ex ante handelt. Weiters ist der Begriff "vitale Gefährdung" insoweit unscharf, als daraus nicht hervorgeht, ob damit nur "Lebensgefahr" gemeint ist oder ob auch die Gefahr einer sonst nicht vermeidbaren schweren Gesundheitsschädigung einbezogen ist, die ebenfalls die Notwendigkeit und Unaufschiebbarkeit der Anstaltspflege nach sich zieht. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Anstaltspflege auch dann erforderlich sein kann, wenn der Versicherte nur fortgesetzt beobachtet werden muss, etwa wenn die Ausnüchterung eine medizinische Überwachung erfordert, die nur nach stationärer Aufnahme in einer Krankenanstalt erbracht werden kann.

Zur Klärung dieser Fragen erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig.

In den Entscheidungen 10 ObS 99/08v und 10 ObS 75/09s hat der OGH in Bezug auf die Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers bei einer der Ausnüchterung bedürftigen Person ausgesprochen, dass auch die Klärung des Krankheitsverdachts Teil der Krankenbehandlung ist.

Wenn die Klägerin zwar stationär aufgenommen wurde, aber offenbar keine medizinischen Untersuchungen an ihr vorgenommen worden sind, stellt sich die Frage, wie die Anstaltsbedürftigkeit bzw deren Fehlen (ex ante) beurteilt werden konnte. Auch zu diesem Punkt fehlt es an ausreichenden Feststellungen.

In diesem Zusammenhang kann auch von Bedeutung sein, ob eine Behandlung (einschließlich einer Untersuchung zur Diagnoseerstellung) nicht durchgeführt wurde, weil keine Befugnis dazu bestand. Nach den inhaltlich weitgehend übereinstimmenden Regelungen des § 13 Abs 3 Wr KAG, des § 283 Abs 3 ABGB und des § 146c Abs 3 ABGB erfordern medizinische Behandlungen die Einwilligung des Betroffenen. Nur bei fehlender Einsichts- und Urteilsfähigkeit ist die Zustimmung einer anderen Person (gesetzlicher Vertreter bzw Pflegeperson bzw Sachwalter) erforderlich. Der Einwilligung (des einsichtsunfähigen Patienten) bzw der Zustimmung bedarf es dann nicht, wenn die Behandlung so dringend notwendig ist, dass der mit der Einholung der Einwilligung bzw der Zustimmung verbundene Aufschub das Leben gefährden würde oder mit der Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit verbunden wäre.

Soweit die Frage einer allfälligen Behandlungsablehnung durch die Klägerin nach dem Vorgesagten noch von rechtlicher Bedeutung ist, ist im bisherigen Verfahren nicht ausreichend geklärt, ob die alkoholisierte Klägerin zum Zeitpunkt einer möglichen Behandlungsablehnung noch einsichtsunfähig oder schon wieder einsichtsfähig war. Im erstgenannten Fall ist - im Fall der Durchführung einer Behandlungsmaßnahme - auch zu klären, ob der mit der Einholung der Einwilligung (bzw der Zustimmung, falls die Klägerin bereits damals unter Sachwalterschaft gestanden sein sollte) verbundene Aufschub das Leben der Klägerin gefährdet hätte oder mit der Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit verbunden gewesen wäre.

Im zweitgenannten Fall (Einsichtsfähigkeit) konnte die Klägerin von vornherein eine Behandlung (einschließlich einer Untersuchung zur Diagnoseerstellung) wirksam ablehnen, mit der Konsequenz, dass auch keine Leistungspflicht des Krankenversicherungsträgers zur Gewährung von Anstaltspflege besteht.

Falls keine Krankenbehandlung an der Klägerin begonnen wurde, bestand auch kein Anlass zu einer "formellen" Beendigung dieser "Leistung". Wurde dagegen eine Behandlung begonnen, wurde im Hinblick auf das Erfordernis der Erkennbarkeit der fehlenden Notwendigkeit ärztlicher Behandlung in sinngemäßer Anwendung des § 107 Abs 1 ASVG ein "formaler Akt" erforderlich, um die krankenversicherungsrechtliche Leistung der Anstaltspflege zu beenden.