02.09.2010 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Versehrtenrente - angemessene Berücksichtigung der Ausbildung und des bisherigen Berufs zur Vermeidung unbilliger Härten

Die Unmöglichkeit, den bisherigen Beruf weiterhin ausüben zu können, stellt für sich allein noch keinen Härtefall dar; nur wenn die besonderen Umstände des Einzelfalls, etwa eine spezialisierte Berufsausbildung, die eine anderweitige Verwendung, bezogen auf das gesamte Erwerbsleben, praktisch gar nicht zulässt oder in weit größerem Umfang einschränkt als in durchschnittlichen Fällen mit vergleichbaren Unfallfolgen, könnte von einem besonders zu berücksichtigenden Härtefall gesprochen werden


Schlagworte: Unfallversicherung, Versehrtenrente, Minderung der Erwerbsfähigkeit, Härtefall
Gesetze:

§ 203 ASVG

GZ 10 ObS 63/10b, 01.06.2010

OGH: Es entspricht seit der Entscheidung 9 ObS 23/87 der stRsp des OGH, dass auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung die Auswirkungen einer Unfallverletzung auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu prüfen sind und der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit daher unabhängig vom tatsächlich ausgeübten Beruf abstrakt zu beurteilen ist. Die Unfallversicherung ist keine Berufsversicherung. Nur besondere Situationen im Einzelfall können die angemessene Berücksichtigung der Ausbildung und des bisherigen Berufs zur Vermeidung unbilliger Härten rechtfertigen. Ein Härtefall, der ein Abweichen von der ärztlichen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigen könnte, liegt nach stRsp nur dann vor, wenn den Versicherten infolge der unfallbedingten Aufgabe oder erheblichen Einschränkung der bisherigen Tätigkeit beträchtliche Nachteile in finanziell-wirtschaftlicher Hinsicht treffen und eine Umstellung auf andere Tätigkeiten unmöglich ist oder ganz erheblich schwer fällt, wobei im Interesse der Vermeidung einer zu starken Annäherung an eine konkrete Schadensberechnung ein strenger Maßstab anzulegen ist.

Die Unmöglichkeit, den bisherigen Beruf weiterhin ausüben zu können, stellt für sich allein noch keinen Härtefall dar. Nur wenn die besonderen Umstände des Einzelfalls, etwa eine spezialisierte Berufsausbildung, die eine anderweitige Verwendung, bezogen auf das gesamte Erwerbsleben, praktisch gar nicht zulässt oder in weit größerem Umfang einschränkt als in durchschnittlichen Fällen mit vergleichbaren Unfallfolgen, könnte von einem besonders zu berücksichtigenden Härtefall gesprochen werden.

Diese Ausführungen entsprechen auch der in Deutschland vertretenen Auffassung zu der dort ausdrücklich im Gesetz enthaltenen Härteklausel des § 56 Abs 2 Satz 3 SGB VII (früher § 581 Abs 2 RVO) über die Berücksichtigung erworbener besonderer beruflicher Kenntnisse und Erfahrungen. Danach liegen die eine Höherbewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigenden Nachteile dann vor, wenn unter Wahrung des Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde. Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob dies der Fall ist, hat das deutsche Bundessozialgericht insbesondere das Alter des Verletzten, die Dauer der Ausbildung sowie va die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit und auch den Umstand bezeichnet, dass die bisher verrichtete Tätigkeit eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete. Aus diesen Merkmalen und den außerdem zu beachtenden sonstigen besonderen Umständen des Einzelfalls kann sich eine höhere Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergeben, wenn der Verletzte die ihm verbliebenen Kenntnisse und Fähigkeiten nur noch unter Inkaufnahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens verwerten kann. Dabei wurde aber betont, dass allein die unfallbedingte Aufgabe des erlernten Berufs ebenso wenig eine Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu begründen vermag, wie allein der Umstand, dass erst unter Heranziehung der Erhöhungsvorschrift ein Anspruch auf Versehrtenrente ermöglicht werden kann. Das Bundessozialgericht hat stets betont, dass aus diesen Umständen nicht allein bzw nicht zwangsläufig auf das Vorliegen einer unbilligen Härte geschlossen werden könne; das gleiche gelte für den erheblichen Minderverdienst, den ein Betroffener wegen des Berufsverlustes hinzunehmen habe, und zwar wegen des im Unfallversicherungsrecht herrschenden Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung. Eine besondere Härte hat das Bundessozialgericht zB im Fall eines Geigers bejaht, der wegen des Verlustes mehrerer Finger seinen Beruf völlig aufgeben musste. In gleicher Weise ist der Fall zu bewerten, dass ein Kaffeeröster seinen Geruchs- und Geschmacksinn verliert. Während diese Unfallfolgen in der Regel mit 10 bis 15 vH bewertet werden, ist im Beispielsfall wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit eine höhere Minderung der Erwerbsfähigkeit anzusetzen. Als Gegenbeispiel für die Nichtanwendung der Härteklausel gilt der Fall eines Musikdozenten, der nach einem Arbeitsunfall zwar seinen Beruf als Dozent weiterhin ausüben, dabei und bei seiner Nebentätigkeit als Solist aber in gewissem Umfang behindert war, weil er durch die Verkrümmung des Fingers der linken Hand bestimmte Griffe beim Klavierspielen nicht oder nicht mehr exakt genug ausüben konnte.

Die Frage, ob ein besonderer Härtefall vorliegt, ist somit aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Insgesamt ist der Maßstab der Rsp streng und macht die Anwendung der Härteklausel zu einer Ausnahme, um eine Aufweichung der die Versicherten überwiegend begünstigenden abstrakten Schadensberechnung zu vermeiden. So hat der OGH in seiner bisherigen Judikatur das Vorliegen einer besonderen Härte im konkreten Einzelfall stets verneint.