09.12.2010 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Kündigungsanfechtung nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG (hier: eines Assistenzprofessors)

Bei der Beurteilung der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG ist im Fall eines gerechtfertigten Wochenpendelns jedenfalls der dafür aufzuwendende finanzielle Mehraufwand zu berücksichtigen; hat der Arbeitnehmer tatsächlich eine allerdings nachteilige neue Arbeitsstelle angenommen, so sind unabhängig davon seine Arbeitsmarktchancen zum Konkretisierungszeitpunkt zu beurteilen; bei besonders qualifizierten Tätigkeiten erscheint es dabei gerechtfertigt, die Prüfung allgemein auf solche Tätigkeiten zu beziehen, die der Ausbildung und den Fähigkeiten des Arbeitnehmers entsprechen, und nicht auf die tatsächlich ausgeübte Beschäftigung und die damit verbundene berufliche Stellung zu beschränken


Schlagworte: Arbeitsverfassungsrecht, Kündigungsanfechtung, Sozialwidrigkeit, Beeinträchtigung wesentlicher Interessen des Arbeitnehmers, Assistenzprofessor, Hochschulwesen, Wochenpendeln
Gesetze:

§ 105 Abs 3 Z 2 ArbVG

GZ 8 ObA 59/10z, 04.11.2010

OGH: Bei einer Kündigungsanfechtung nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG ist im ersten Schritt zu prüfen, ob dem Arbeitnehmer durch die Kündigung erhebliche soziale Nachteile entstehen, die über die normale Interessenbeeinträchtigung bei einer Kündigung hinausgehen. In die Untersuchung, ob durch die Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt werden, ist nicht nur die Möglichkeit der Erlangung eines neuen, einigermaßen gleichwertigen Arbeitsplatzes, sondern vielmehr die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage des Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen einzubeziehen. Es sind alle wirtschaftlichen und sozialen Umstände zueinander in Beziehung zu setzen und nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls zu gewichten.

Die Beurteilung der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen ist in der Regel maßgeblich von den Arbeitsmarktchancen des gekündigten Arbeitnehmers abhängig. Allgemein muss zu diesem Zweck eine Prognose über die nach dem Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses aller Voraussicht nach wirksam werdenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Kündigung für den Arbeitnehmer erstellt werden. Dabei ist die Arbeitsmarktlage für den Gekündigten möglichst konkret zu ermitteln.

Ereignisse, die nach Ende des Arbeitsverhältnisses eintreten, oder Entwicklungen, die in diesem Zeitraum stattfinden, sind dann zu berücksichtigen, wenn sie die Richtigkeit der im Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitsverhältnisses abgegebenen Prognose betreffen. Der Umstand, dass der Arbeitnehmer tatsächlich einen gleichwertigen neuen Arbeitsplatz erlangt, ist somit bei der Beurteilung zu berücksichtigen.

Kann der Arbeitnehmer aufgrund der im Auflösungszeitpunkt herrschenden Arbeitsmarktlage ohne weiteres einen gleichwertigen Arbeitsplatz mit annähernd gleichen Verdienstmöglichkeiten erlangen, so werden wesentliche Interessen grundsätzlich nicht beeinträchtigt. Im vorliegenden Fall fällt allerdings ins Gewicht, dass sich der neue Arbeitsplatz des Klägers in St. Pölten befindet. Demgegenüber lebt er mit seiner Gattin in Salzburg. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger habe keine Umstände geltend gemacht, die ihn an einer Übersiedlung nach St. Pölten hinderten, kann demnach nicht aufrecht erhalten werden. Ebenso findet die rechtliche Schlussfolgerung, der Kläger und auch seine Gattin seien in ihrer Mobilität auf dem Arbeitsmarkt nicht eingeschränkt, in der Tatsachengrundlage keine Deckung. Die Ehegattin des Klägers ist als Akademikerin ganztägig in der Referatsleitung "Forschungsförderung" der Universität Salzburg beschäftigt. Dafür, dass auch sie einen vergleichbaren Arbeitsplatz in St. Pölten finden könnte, bestehen keine Anhaltspunkte. Da dem Kläger mit Rücksicht auf seine familiären Verhältnisse eine Übersiedlung nach St. Pölten nicht zumutbar ist, kann auch nicht von seiner uneingeschränkten Mobilität ausgegangen werden. Vielmehr ist dem Kläger das Pendeln zwischen Salzburg und St. Pölten zuzubilligen. Die Vorinstanzen gehen in dieser Hinsicht - im Einklang mit dem Vorbringen des Klägers - von einer Zweitwohnung in St. Pölten aus, was angesichts der Entfernung auch nahe liegend ist. Die Fahrtstrecke beträgt (in eine Richtung) rund 260 km, wofür eine Fahrzeit von zumindest rund zwei Stunden aufgewendet werden muss.

Bei Beurteilung der wesentlichen Interessenbeeinträchtigung sind im Fall eines gerechtfertigten Pendelns sowohl der finanzielle Mehraufwand als auch der Zeitaufwand und die Beeinträchtigung der Lebensqualität zu berücksichtigen. Die Einschätzung des Berufungsgerichts, dass sich der Kläger nicht auf rücksichtswürdige soziale oder wirtschaftliche Aspekte stützen könne, erweist sich als unzutreffend.

Im Fall des zu unterstellenden Wochenpendelns kann sich der Kläger außer auf die Fahrtkosten va auf den zusätzlichen Aufwand für eine angemessene Zweitwohnung in St. Pölten berufen. Die - über die steuerliche Pauschalierung hinausgehenden - Mehraufwendungen können nicht etwa mit dem Verkehrsabsetzbetrag ("Pendlerpauschale") abgetan werden. Im Fall des Tagespendelns würde die erheblich verlängerte Fahrtzeit zum neuen Arbeitsplatz trotz nur geringer Entgelteinbuße zu einer wesentlichen Interessenbeeinträchtigung des Klägers führen.

Hat der Arbeitnehmer tatsächlich eine nach den dargestellten Grundsätzen allerdings nachteilige Stelle angenommen, so sind nach den allgemeinen Regeln seine Arbeitsmarktchancen zu beurteilen, weil er ansonsten die Beurteilung der Sozialwidrigkeit willkürlich beeinflussen könnte. In diesem Sinn ist grundsätzlich anhand eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens zu klären, ob der gekündigte Arbeitnehmer innerhalb welchen Zeitraums im angemessenen Nahbereich seines Wohnorts unter Einschluss des benachbarten Auslands, sodass ihm eine tägliche An- und Rückreise zumutbar ist, einen neuen Arbeitsplatz erlangen könnte, der seiner Ausbildung oder seiner ausgeübten Beschäftigung entspricht.

Bei Beurteilung der Frage, welche Verweisungsposten dem Kläger zumutbar sind, ist die primäre Funktion des Tatbestandsmerkmals der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen zu berücksichtigen. Diese besteht darin, den Kündigungsschutz jenen Arbeitnehmern zu gewähren, die auf ihren Arbeitsplatz zur Deckung ihrer wesentlichen Lebenshaltungskosten angewiesen sind. Die berufliche Situation des Klägers betrifft nicht den typischen Fall, der nach der Zielrichtung des § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG der Beschränkung der Kündigungsmöglichkeit zugrunde liegt. Bei besonders qualifizierten Tätigkeiten wie im Hochschulbereich, für die erfahrungsgemäß nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl an Stellen zur Verfügung stehen, erscheint daher die Anwendung großzügigerer Verweisungskriterien gerechtfertigt. Beim Kläger wird demnach in erster Linie auf eine seiner Ausbildung und seinen Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit abzustellen sein. Die Prüfung kann daher nicht etwa auf eine Tätigkeit im Hochschul- oder Fachhochschulbereich oder überhaupt auf Lehr- und Vortragstätigkeiten beschränkt bleiben. Ebenso wenig kann er sich auf eine Leitungsfunktion mit Budget- und Mitarbeiterverantwortung berufen. In diesem Sinn hat er - in Erfüllung seiner Behauptungs- und Beweislast - auch allgemein bestritten, in Österreich und Deutschland einen vergleichbaren (zumutbaren) Arbeitsplatz in der Medienbranche bzw in der Wirtschaft zu erhalten.

Mit der Bezugnahme auf das befristete Arbeitsverhältnis des Klägers in St. Pölten kann die Beklagte - entgegen den Ausführungen in der Revisionsbeantwortung - nicht dokumentieren, dass das wiederholte (jährliche) Wechseln des Arbeitsplatzes und des Arbeitsorts zur typischen Form der Lebensführung im Bereich der Lehre und Wissenschaft gehöre. Vielmehr führt das Vorhandensein nur eines befristeten Arbeitsverhältnisses grundsätzlich zur Interessenbeeinträchtigung, wenn das bisherige Arbeitsverhältnis zeitlich nicht begrenzt war.