13.01.2011 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Zur Frage, ob dem ehemaligen Lehrling auch ohne Absolvierung der Lehrabschlussprüfung Zeit zum Besuch der Berufsschule zu gewähren ist und demzufolge die schulbesuchsbedingte Abwesenheit kein unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst darstellt

Dem freiwilligen Berufsschulbesuch, der Voraussetzung für einen positiven Lehrabschluss ist, muss auch noch während der Weiterverwendungszeit entsprechendes Gewicht beigemessen werden, das einem Rechtfertigungsgrund gleichkommt; die angekündigte, berufsschulbedingte Abwesenheit vom Dienst kann daher - auch ohne Zustimmung des Arbeitgebers - den Entlassungstatbestand des § 82 lit f erster Tatbestand GewO nicht erfüllen


Schlagworte: Berufsausbildungsrecht, ehemaliger Lehrling, keine Lehrabschlussprüfung, Zeit zum Besuch der Berufsschule, Entlassung, unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst
Gesetze:

§ 18 BAG, § 14 BAG, § 9 BAG, § 82 lit f GewO

GZ 9 ObA 146/09z, 03.09.2010

OGH: Die Behaltefrist gem § 18 Abs 1 BAG knüpft nicht nur an die erfolgreiche Ablegung der Lehrabschlussprüfung gem § 14 Abs 1 lit e BAG, sondern alternativ auch an die Beendigung des Lehrverhältnisses durch Fristablauf iSd § 14 Abs 1 BAG an. Dieser Fall liegt hier vor. Punkt IV Z 8 des Kollektivvertrags für die Arbeiter im eisen- und metallverarbeitenden Gewerbe sieht über die Frist des § 18 Abs 1 BAG hinaus eine Behaltefrist von insgesamt sechs Monaten vor. Dieser Verpflichtung kam die Beklagte zunächst nach, indem sie dem Kläger für die Dauer von sechs Monaten ein Arbeitsverhältnis als Hilfsarbeiter anbot, was der Kläger - zumindest schlüssig - auch annahm.

Das BAG sieht in seinem § 9 Freistellungsverpflichtungen des Lehrherrn nur für die Zeit des Lehrverhältnisses, nicht jedoch auch für die Zeit der daran anschließenden Behaltezeit vor. Der Kollektivvertrag bestimmt in seinem Punkt IV Z 9, dass Arbeitgeber dann, wenn der Arbeitnehmer während der Weiterverwendungszeit aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, nicht zur Lehrabschlussprüfung antreten konnte, diesen bis zum erstanberaumten Termin der Lehrabschlussprüfung weiter im erlernten Beruf zu verwenden hat. Weder das BAG noch der Kollektivvertrag sehen aber eine Regelung vor, ob und unter welchen Umständen der ehemalige Lehrherr verpflichtet ist, dem nun im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses tätigen ehemaligen Lehrling Zeit zum Berufsschulbesuch zu geben, bzw ob und in welchem Umfang eine Entgeltpflicht für die Zeit des Schulbesuchs besteht.

Die Vorinstanzen haben zunächst zutreffend darauf hingewiesen, dass ein Fall des § 1154b Abs 5 ABGB nicht angenommen werden kann, weil von einer "verhältnismäßig kurzen Zeit der Dienstverhinderung" nicht die Rede sein kann. Auch § 1155 ABGB ist keine taugliche Grundlage für einen Entgeltanspruch, weil die Hinderungsgründe für die Arbeitsleistung weder auf Seiten des Arbeitgebers noch in einer "neutralen Sphäre" gelegen sind, sondern ausschließlich in der Sphäre des Arbeitnehmers. Kann somit das Synallagma (Zurverfügungstellen der Arbeitskraft gegen Leistung des geschuldeten Lohn) vom Arbeitnehmer nicht erfüllt werden, kann ein Anspruch auf Entgelt - mangels eines gesetzlichen Ausnahmetatbestands - nicht bestehen.

Den Vorinstanzen ist dahin beizupflichten, dass - wie im Fall des Klägers - die Vornahme des Schulbesuchs gem § 21 Abs 2 erster Satz SchPflG gerade dann regelmäßig auf Schwierigkeiten stoßen wird, wenn ein Lehrling während der vorgesehenen Lehrzeit die Schule nicht beenden konnte und nunmehr versucht, in der Behaltefrist die Berufsschule fortzusetzen. Aus der genannten Bestimmung ergibt sich aber die klare Absicht des Gesetzgebers, den Lehrabschluss zu fördern. Zutreffend wurde bereits aufgezeigt, dass bei einer Kursdauer von sechs Wochen - ganz abgesehen vom dann verfehlten Erholungszweck - auch der gesetzliche Urlaub nicht ausreichen wird, um die Schule besuchen zu können.

Im vorliegenden Fall war die Beklagte schon lange darüber informiert, dass der Kläger beabsichtigte, während der Weiterverwendungszeit den zweiten Teil des dritten Schuljahres zu absolvieren. Gem § 82 lit f erster Tatbestand GewO stellt es einen Entlassungsgrund dar, wenn der Arbeitnehmer die Arbeit unbefugt verlassen hat. Dieser Tatbestand ist iSd § 27 Z 4 erster Tatbestand AngG auszulegen. Danach muss das Dienstversäumnis pflichtwidrig sein. Liegt aber eine Dienstverhinderung und somit ein Rechtfertigungsgrund vor, ist die Einholung einer Genehmigung des Arbeitgebers nicht erforderlich. Nun wäre der Kläger zwar nicht verpflichtet gewesen, die Berufsschule weiter zu besuchen, sodass keine unvorhersehbare Dienstverhinderung gegeben war, doch muss dem freiwilligen Berufsschulbesuch, der Voraussetzung für einen positiven Lehrabschluss ist, auch noch während der Weiterverwendungszeit entsprechendes Gewicht beigemessen werden, das einem Rechtfertigungsgrund gleichkommt. Die angekündigte, berufsschulbedingte Abwesenheit vom Dienst kann daher - auch ohne Zustimmung des Arbeitgebers - den Entlassungstatbestand des § 82 lit f erster Tatbestand GewO nicht erfüllen. Die taxative Anführung der Entlassungsgründe in § 82 GewO verhindert auch, die Weigerung des Klägers, eine schriftliche Karenzierungsvereinbarung zu unterfertigen, als Entlassungsgrund anzusehen.