24.02.2011 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Besondere Unterstützung gem § 196 ASVG - zur Frage, ob ein auf § 196 ASVG gestütztes Begehren auf Kostenerstattung hinsichtlich eines vom Krankenversicherungsträger nicht geleisteten Restbetrags als sog Pflichtleistung ohne individuellen Rechtsanspruch (freiwillige Leistung) der gerichtlichen Ermessensprüfung unterliegt

Die Frage, ob aus dem Anspruch eines Klägers auf fehlerfreie Handhabung des Ermessens auch ein Anspruch auf Zuerkennung der begehrten Leistung resultiert, ist im gerichtlichen Verfahren nur aufgrund der Ergebnisse dieses Verfahrens und nicht aufgrund der Ergebnisse des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens vor dem Sozialversicherungsträger zu beurteilen


Schlagworte: Unfallversicherung, besondere Unterstützung, Pflichtleistungen ohne individuellem Rechtsanspruch, Ermessen, sukzessive Kompetenz
Gesetze:

§ 196 ASVG, Art 94 B-VG

GZ 10 ObS 138/10g, 21.12.2010

OGH: Der Normtext des § 196 ASVG lässt keinen Zweifel, dass die Leistung dem Typ der Pflichtleistungen ohne individuellem Rechtsanspruch ("freiwillige Leistungen") zugehört, die vom Unfallversicherungsträger im Ermessen zu gewähren sind.

Zu Leistungen dieser Art hat der OGH in der E 10 ObS 258/02t ausgesprochen, dass gegen die Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers Bescheidklage wegen gesetzwidriger Ermessensausübung erhoben werden kann. Dabei ist nur eine Rechtskontrolle, nicht auch eine Zweckmäßigkeitskontrolle durchzuführen: Die gerichtliche Überprüfung ist entsprechend Art 130 Abs 2 B-VG darauf beschränkt, ob vom eingeräumten Ermessen innerhalb der vom Gesetzgeber gezogenen Grenzen Gebrauch gemacht wurde oder ob dies - in Form einer Ermessensüberschreitung oder eines Ermessensmissbrauchs - nicht der Fall gewesen ist.

Kann der Sozialversicherungsträger die für seine Ermessensentscheidung maßgebenden sachlichen Kriterien in rational nachvollziehbarer Weise darlegen, ist das vom Versicherten gegen die Ermessensentscheidung erhobene Klagebegehren vom Gericht abzuweisen; wurde dagegen die Leistung nicht aus sachlichen Gründen, sondern infolge eines Ermessensmissbrauchs verweigert, ist urteilsmäßig die Verpflichtung des Sozialversicherungsträgers zur Erbringung der Leistung auszusprechen.

Hier zeigt sich ein gewisses Spannungsfeld zur sukzessiven Kompetenz, nach der die Gerichte in den an sie herangetragenen Leistungssachen nicht etwa die Ergebnisse des Verwaltungsverfahrens zu überprüfen haben; vielmehr haben sie den gesamten entscheidungswesentlichen Sachverhalt von Grund auf neu ohne jede Bindung an das vorangegangene Verwaltungsverfahren festzustellen und zu beurteilen und können dabei auch zu vom Verwaltungsverfahren abweichenden Ergebnissen gelangen.

Mit der Thematik der Bekämpfung von im Ermessen ergangenen Bescheiden des Sozialversicherungsträgers über "freiwillige Leistungen" im Rahmen der sukzessiven Kompetenz hat sich der OGH in der E 10 ObS 7/05k befasst und auch darin den Grundsatz der fehlenden Bindung an Ergebnisse des Verwaltungsverfahrens bekräftigt: Die Frage, ob aus dem Anspruch eines Klägers auf fehlerfreie Handhabung des Ermessens auch ein Anspruch auf Zuerkennung der begehrten Leistung resultiert, ist im gerichtlichen Verfahren nur aufgrund der Ergebnisse dieses Verfahrens und nicht aufgrund der Ergebnisse des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens vor dem Sozialversicherungsträger zu beurteilen.

Da das Wesen einer Ermessensentscheidung darin liegt, dass ihr Inhalt gesetzlich nicht vorausbestimmt ist, dass mehrere Entscheidungsmöglichkeiten bestehen und alle diese möglichen Entscheidungen gesetzmäßig sind, muss aber die Entscheidung des Versicherungsträgers als "gegeben" angesehen werden; das Gericht ist nicht befugt, im Rahmen der sukzessiven Kompetenz eine eigene Ermessensentscheidung an die Stelle einer (ebenfalls gesetzeskonformen) Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers zu setzen. Entspricht die Entscheidung des Sozialversicherungsträgers den gesetzlichen Kriterien für eine Ermessensentscheidung, ist sie insofern zu akzeptieren, als das Gericht die gleiche Entscheidung wiederum zu treffen hat (wenn auch auf der Grundlage der Ergebnisse des gerichtlichen Verfahrens).

Bei der Ausübung des Ermessens muss stets auch der Gleichheitsgrundsatz (Art 7 B-VG und Art 2 StGG) beachtet werden. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem aus dem Gleichheitsgrundsatz erfließenden Sachlichkeitsgebot zu: Der Versicherte hat den Anspruch, dass bei der Entscheidung über seinen Antrag auf Gewährung der Leistung keine unsachlichen Momente eine Rolle spielen. In diesem Sinn sind Richtlinien des Versicherungsträgers, die die Ermessensausübung determinieren, zur Erreichung einer Gleichbehandlung der Versicherten durchaus förderlich; sie müssen aber sachliche ("iSd Gesetzes") und nachvollziehbare Kriterien vorgeben. Es ist nicht ersichtlich, dass die festgestellten Richtlinien der beklagten Partei zur Ausübung des Ermessens bei Anwendung des § 196 ASVG diesen Anforderungen nicht entsprechen würden. In diesem Zusammenhang ist der Wortlaut des § 196 ASVG in Erinnerung zu rufen, wonach der Träger der Unfallversicherung dem Versehrten oder seinen Angehörigen für die Dauer einer Unfallheilbehandlung (§ 191) oder einer Krankenbehandlung (§ 119) in Berücksichtigung der Schwere der Verletzungsfolgen und der langen Dauer der Behandlung eine besondere Unterstützung gewähren kann; beispielsweise werden Transportkosten vom Behandlungsort zum Wohnsitzort (iZm den Familienverhältnissen und den wirtschaftlichen Verhältnissen des Versehrten) erwähnt.

Angesichts des Pflichtleistungsspektrums der Unfallversicherung, aber auch der nach § 191 ASVG primär leistungspflichtigen Krankenversicherung muss eine "besondere Unterstützung" nach § 196 ASVG auf einer besonderen Härte für den Versicherten beruhen. Diesem Aspekt tragen auch die Richtlinien der beklagten Partei Rechnung, indem sie - im konkret interessierenden Zusammenhang der Inanspruchnahme einer Behandlung in einer privaten Krankenanstalt - den Anspruch auf drei Fälle einschränken, in denen der Versehrte außerhalb des Pflichtleistungsspektrums als schutzwürdig erscheint:- Verweisung des Versicherten an die private Krankenanstalt durch die AUVA oder eine ihrer Behandlungseinrichtungen;- Fehlen einer Vertragseinrichtung der Krankenversicherungsträger oder der AUVA oder Unmöglichkeit ihrer Inanspruchnahme;- Der Versehrte hat sich (betreffend die Kostenübernahme) gutgläubig auf eine private Behandlung eingelassen.

Der Kläger beruft sich darauf, dass er bereits bei den Hornhauttransplantationen die beiden Privatkliniken aufgesucht habe und es sinnvoll gewesen sei, auch für die Behandlung nach der Verschlechterung diese in Anspruch zu nehmen. Soweit damit die Kostenerstattung nach dem österreichischen Sozialversicherungsrecht angesprochen wird, steht ihr entgegen, dass das österreichische Krankenversicherungsrecht zwar vom Grundsatz der freien Arztwahl, nicht aber von einem Grundsatz der Übernahme aller Kosten durch die gesetzliche Sozialversicherung geprägt ist. Wenn die krankenversicherungsrechtlichen Normen keine vollständige Kostenerstattung vorsehen, kann eine solche nicht generell über den Weg der besonderen Unterstützung erreicht werden. Aus diesem Grund ist es sachlich gerechtfertigt (und dem entsprechen auch die Richtlinien der beklagten Partei), die besondere Unterstützung auf Ausnahmefälle zu konzentrieren, in denen der Versehrte besonders schutzwürdig ist, wobei allein der Umstand, dass der Krankenversicherungsträger nicht die Gesamthöhe der Behandlungskosten ersetzt, einen solchen Sonderfall, der (für sich allein) zu einer ausnahmsweisen Leistungspflicht des Unfallversicherungsträgers führen würde, nicht zu begründen vermag. Wenn der Kläger davon ausgeht, dass ihm der Krankenversicherungsträger die ihm zustehenden Leistungen nicht gewährt hat (etwa weil die notwendige Behandlung nur in einer Spezialklinik möglich war), läge es an ihm, den Anspruch auf der Ebene der Krankenversicherung durchzusetzen.