21.04.2011 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Wiederaufnahme - Anwendbarkeit der Bestimmung des § 101 ASVG (Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen) im sozialgerichtlichen Verfahren?

Es stellt keine Regelungslücke dar, wenn im Sozialrechtsverfahren die im § 101 ASVG genannten Gründe nicht als (weitere) Wiederaufnahmsgründe herangezogen werden


Schlagworte: Sozialrechtsverfahren, rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen, Bescheid, Wiederaufnahme
Gesetze:

§ 101 ASVG, § 530 ZPO

GZ 10 ObS 6/11x, 01.03.2011

Der Kläger vertritt den Standpunkt, es sei nicht nachvollziehbar, dass im Verwaltungsverfahren § 101 ASVG als lex specialis gegenüber den Bestimmungen über die Wiederaufnahme nach § 69 AVG zur Verfügung stehe, während im sozialgerichtlichen Verfahren ausschließlich die "strengere" Bestimmung des § 530 ZPO zur Anwendung gelangen solle. Dass in § 64 ASGG ein Hinweis auf die Anwendbarkeit der Bestimmung des § 101 ASVG im sozialgerichtlichen Verfahren fehlt, stelle eine planwidrige Lücke dar, die durch Analogie zu schließen sei. Sollte keine Analogie möglich sein, begründe die unterschiedliche Behandlung der Interessen eines Versicherten im Verwaltungsverfahren einerseits und im sozialgerichtlichen Verfahren andererseits Bedenken gegen die Verfassungsgemäßheit der §§ 64 ff ASGG.

OGH: Der mit "Rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen" überschriebene § 101 ASVG normiert, dass dann, wenn sich nachträglich ergibt, dass eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde, mit der Wirkung vom Tage der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen ist. Schon aus dem Gesetzeswortlaut ergibt sich, dass § 101 ASVG nur auf Bescheide eines Sozialversicherungsträgers anwendbar ist. Diese können zu Gunsten des Berechtigten bei Vorliegen eines dem Pensionsversicherungsträger unterlaufenen wesentlichen Rechtsirrtums oder offenkundiges Versehens von diesem ohne weiteres berichtigt werden. Die Entscheidung, ob diese gesetzlichen Voraussetzungen für die Herstellung des gesetzlichen Zustands vorliegen, ist eine Verwaltungssache iSd § 355 ASVG, über die nach Einspruch (§ 412 ASVG) der Landeshauptmann und in der Folge der Bundesminister zu entscheiden hat (§ 413 Abs 1 Z 2 ASVG; § 415 ASVG). Anträge auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustands nach § 101 ASVG sind demnach nicht beim Sozialgericht, sondern beim Sozialversicherungsträger einzubringen. Den Gerichten ist die Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 101 ASVG zwingend entzogen.

Die Wiederaufnahmsklage nach § 530 ZPO bezweckt die Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung, durch welche die Sache erledigt wird, wegen eines bei der Gewinnung der Entscheidungsgrundlagen unterlaufenen (in den §§ 530 und 531 ZPO genannten) schwerwiegenden Fehlers und die Ersetzung der fehlerhaften Entscheidung durch eine fehlerfreie. Welche Fehler auf diese Weise geltend gemacht werden können, ergibt sich aus den Tatbeständen der §§ 530 und 531 ZPO, etwa wenn die Entscheidung aufgrund einer gerichtlich strafbaren Handlung zu Stande kam oder neue Tatsachen oder Beweismittel aufgefunden wurden. Nicht zu den Wiederaufnahmsgründen nach § 530 ZPO gehört die Unvereinbarkeit einer Entscheidung und ihrer Rechtsfolgen mit der materiellen Rechtsordnung. Ein prozessuales Mittel zur Beseitigung der Rechtskraft (allein) aus diesem Grund ist in der österreichischen Prozessordnung nicht existent. So stellen auch der "wesentliche Irrtum über den Sachverhalt" oder "das offenkundige Versehen" iSd § 101 ASVG keinen Wiederaufnahms- oder Nichtigkeitsgrund dar. Lässt sich der behauptete Sachverhalt von vornherein unter keinen der Wiederaufnahmsgründe der §§ 530 und 531 ZPO unterordnen, ist die Klage zurückzuweisen.

Die Sonderregeln im ASGG erklären sich va aus der speziellen Natur der Ansprüche, die meist existentielle Bedürfnisse von Arbeitnehmern und Sozialversicherten berühren, weshalb der Gesetzgeber dieser Gruppe besonderen Schutz angedeihen lässt. Hält man sich diese Zielsetzung vor Augen, kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, er sei sich bei Schaffung des III. Abschnitts des ASGG darüber nicht bewusst gewesen, dass der "wesentliche Irrtum über den Sachverhalt" oder "das offenkundige Versehen" iSd § 101 ASVG keinen Wiederaufnahmsgrund nach den §§ 530 f ZPO darstellen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Nichterwähnung der Wiederaufnahmsklage im III. Abschnitt des ASGG vom Gesetzgeber bewusst erfolgte, um zu bewirken, dass auch im Sozialrechtsverfahren eine Durchbrechung der Rechtskraft im Wege der Wiederaufnahmsklage ausschließlich aus den in den §§ 530 f ZPO genannten Wiederaufnahmsgründen erfolgen soll. Es stellt deshalb keine Regelungslücke dar, wenn im Sozialrechtsverfahren die im § 101 ASVG genannten Gründe nicht als (weitere) Wiederaufnahmsgründe herangezogen werden.

Bei dem Verwaltungsverfahren vor dem Versicherungsträger und dem sozialgerichtlichen Verfahren handelt es sich um unterschiedliche Verfahrensarten mit deutlich unterschiedlicher Ausgestaltung. Mit Rücksicht auf den öffentlich-rechtlichen Charakter der Versicherungsleistung soll bei Vorliegen eines offenkundigen Versehens oder eines wesentlichen Irrtums durch § 101 ASVG doch der den wirklichen Verhältnissen entsprechende Zustand hergestellt werden. Erging hingegen ein gerichtliches Urteil nach einem vom Amtswegigkeitsgrundsatz geprägten gerichtlichen Beweisverfahren, steht dem Versicherten nur die Wiederaufnahmsklage nach Maßgabe der ZPO zu, welche den "wesentlichen Irrtum über den Sachverhalt" oder "das offenkundige Versehen" iSd § 101 ASVG nicht als Wiederaufnahmsgrund vorsieht. Selbst wenn man den Verweis auf die Möglichkeit der Erhebung der Wiederaufnahmsklage nach den §§ 530 f ZPO nicht als einen dem § 101 ASVG gleichwertigen Ersatz ansieht, liegt die sachliche Rechtfertigung für diese Differenzierung in der unterschiedlichen Ausgestaltung der beiden Verfahrenssysteme und der höheren Richtigkeitsgewähr von gerichtlichen Entscheidungen. Eine Verschiedenheit der Regeln, nach denen Entscheidungen zustande kommen, rechtfertigt wohl im Allgemeinen auch einen unterschiedlichen Bestandschutz.