12.05.2011 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Versehrtenrente - zur Frage, ob das Berufungsgericht in Wahrnehmung seiner Pflicht zur Überprüfung der ärztlichen Einschätzung der MdE allein aus rechtlichen Erwägungen eine im erstinstanzlichen Urteil festgestellte medizinische MdE im Rahmen der Beurteilung der rechtlichen MdE korrigieren darf oder ob eine derartige Korrektur eine Neufeststellung der medizinischen MdE nach Beweiswiederholung voraussetzt

Dem Gericht bleibt die Aufgabe, aufgrund des Befunds, der Beurteilung und der Antworten auf die an den medizinischen Sachverständigen gestellten Fragen nach dem Ausmaß der MdE nachzuprüfen, ob dessen Schätzung zutreffen kann oder ob dabei wichtige Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden und ein Abweichen von der ärztlichen Schätzung zur Vermeidung unbilliger Härten geboten ist; so werden die Höherbewertung der MdE rechtfertigenden Nachteile ausnahmsweise dann bejaht, wenn unter Wahrung des Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde; nur in diesen Fällen kommt ein Abweichen von der medizinischen MdE in Frage


Schlagworte: Unfallversicherung, Versehrtenrente, Minderung der Erwerbsfähigkeit, Berufungsgericht, Neufeststellung der medizinischen MdE nach Beweiswiederholung, unbillige Härte
Gesetze:

§ 203 ASVG, § 503 Z 2 ZPO

GZ 10 ObS 8/11s, 29.03.2011

Der Revisionswerber macht ausschließlich den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend und bringt zusammengefasst vor, entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts sei die aus der Entstellung resultierende 5%ige (medizinische) MdE zusätzlich zu berücksichtigen. Die medizinische MdE sei regelmäßig die Grundlage für die rechtliche Eínschätzung der MdE; nur in Ausnahmefällen könnte ein Abweichen geboten sein. Ein solcher Ausnahmefall sei nicht gegeben. Das Berufungsgericht hätte von der Feststellung, aus der Entstellung ergebe sich eine weitere 5%ige MdE, nur nach Vornahme einer Beweiswiederholung (durch Ergänzung des Sachverständigengutachtens) abgehen dürfen. Die dennoch vom Berufungsgericht vorgenommene "Korrektur" sei deshalb jedenfalls rechtswidrig.

OGH: Unter dem Begriff der Erwerbsfähigkeit iSd § 203 ASVG ist die Fähigkeit zu verstehen, sich im Erwerbsleben einen regelmäßigen Erwerb durch selbständige oder unselbständige Arbeit zu verschaffen. Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist deshalb grundsätzlich abstrakt nach dem Umfang aller verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten - und nicht nur den tatsächlich genützten - zu setzen.

Grundlage zur Annahme der MdE ist regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallfolgen oder die Folgen der Berufskrankheit und deren Auswirkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Dem medizinischen Gutachter kommt somit neben der Beschreibung der gesundheitlichen Folgen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit auch die (schwierige) Aufgabe zu, einzuschätzen, wie sich die Unfallfolgen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auswirken. Maßgebliche Grundlagen der ärztlichen Begutachtung bilden dabei die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rsp sowie von dem versicherungsrechtlichen und -medizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze bzw Richtlinien über die Bewertung der MdE bei Unfallverletzten. Diese Richtlinien nehmen nicht nur auf die fortschreitende medizinische Entwicklung Bedacht, sondern auch auf die Verhältnisse auf dem Gebiet des allgemeinen Arbeitsmarktes, sodass den veränderten Anforderungen des Arbeitsmarkts an Arbeitnehmer Rechnung getragen wird. Auf diese Weise berücksichtigt die medizinische Einschätzung, die sich dieser Richtlinien bedient, auch die Auswirkung einer Unfallverletzung auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Die Frage, inwieweit die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten aus medizinischer Sicht, also allein aufgrund der durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit bedingten Leiden, gemindert ist, gehört zum Tatsachenbereich. Bei der im Rahmen der Sachverhaltsfeststellung vom Erstgericht wiedergegebenen Einschätzung der durch den Arbeitsunfall des Klägers bedingten (medizinischen) Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund der Gutachten der medizinischen Sachverständigen mit insgesamt 35 vH handelt es sich daher nach stRsp des erkennenden Senats um eine Tatsachenfeststellung, deren Richtigkeit vom Berufungsgericht im Rahmen einer diesbezüglichen Tatsachen- und Beweisrüge zu überprüfen ist.

Allen Tabellen und sonstigen Grundsätzen zur Beurteilung der MdE ist gemeinsam, dass die angegebenen Werte dem medizinischen Sachverständigen lediglich Anhaltspunkte für die erste summarische Schätzung der individuellen MdE bieten sollen; sie entheben ihn nicht von der nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalls vorzunehmenden Bewertung der unfallbedingten MdE. Da der Sachverständige einen individuellen Fall zu beurteilen hat, darf er sich nicht sklavisch an solche nur generell gehaltene Richtlinien gebunden erachten, können diese doch nicht alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen, sondern stellen immer nur ein Hilfsmittel iSe zusätzlichen Entscheidungsgrundlage dar.

Wie sich aus der Aktenlage ergibt, bezog sich im vorliegenden Fall der augenfachärztliche Sachverständige auf ein ihm 2009 von der Beklagten übermitteltes Schreiben vom 1. Juli 1980, "Beurteilung der MdE durch Schäden des Sehvermögens". In diesem ist bei Erblindung eines Auges ohne äußerlich in Erscheinung tretende Veränderungen eine MdE von 30 % genannt; bei ins Gewicht fallenden Komplikationen oder kosmetischen Entstellungen, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben können, wie Störungen der Beweglichkeit von Lidern und Auge, entstellende Narbenbildung und Defekte am Augapfel selbst ist eine Erhöhung der MdE auf 35 % vorgesehen.

Ausnahmsweise bedarf es zur Einschätzung des Grades der MdE der Heranziehung eines "dreistufigen Verfahrens", wenn die Auswirkungen einer Berufskrankheit (bzw eines Arbeitsunfalls) auf die Einsetzbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht offenkundig sind. Dabei sind zunächst die Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens durch die Berufskrankheit (bzw den Arbeitsunfall) festzustellen, weiters der Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens und schließlich der Grad der MdE. Das dreistufige Verfahren ist aber nur in Ausnahmefällen dann notwendig, wenn mangels eines schon durch längere Zeit erprobten Bewertungsschemas eine Nachprüfbarkeit der medizinischen Einschätzung in Bezug auf die Auswirkungen der konkret bei einem Versehrten gegebenen Einschränkung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht gewährleistet wäre. Es dient dazu, die Grundlagen für die Einschätzung der MdE zu schaffen.

Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht das Erfordernis eines dreistufigen Verfahrens schon in seinem Aufhebungsbeschluss nach dem ersten Rechtsgang verneint und darauf hingewiesen, dass für Augenverletzungen veröffentlichte Rententabellen vorhanden seien.

Die medizinische MdE ist im Allgemeinen zugleich die Grundlage für die rechtliche Einschätzung der MdE. Die ärztliche Einschätzung bildet freilich nicht die alleinige Basis der gerichtlichen Entscheidung. Dem Gericht bleibt die Aufgabe, aufgrund des Befunds, der Beurteilung und der Antworten auf die an den medizinischen Sachverständigen gestellten Fragen nach dem Ausmaß der MdE nachzuprüfen, ob dessen Schätzung zutreffen kann oder ob dabei wichtige Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden und ein Abweichen von der ärztlichen Schätzung zur Vermeidung unbilliger Härten geboten ist. So werden die Höherbewertung der MdE rechtfertigenden Nachteile ausnahmsweise dann bejaht, wenn unter Wahrung des Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde. Nur in diesen Fällen kommt ein Abweichen von der medizinischen MdE in Frage. Dass ein besonderer "Härtefall" iSd Judikatur vorliegt, wurde bereits von den Vorinstanzen übereinstimmend verneint; dagegen wendet sich der Kläger in seiner Revisionsschrift nicht mehr.

Im vorliegenden Fall ist das Berufungsgericht demnach nicht vor die Aufgabe gestellt, die - eine rechtliche Beurteilung darstellende - Frage zu lösen, ob in einem "besonderen Härtefall" von der festgestellten medizinischen Einschätzung abzuweichen ist. Vielmehr hat es eine Beweiswürdigung vorzunehmen, ob es jene Feststellungen des Erstgerichts übernimmt, denen die vom Sachverständigen vorgenommene Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zugrunde liegt, oder ob es von diesen Feststellungen abgeht. Dabei sollen die Aussagen des medizinischen Sachverständigen über bestehende Funktionseinschränkungen und Behinderungen die Begründung für die Beurteilung bilden, wie weit die Erwerbsfähigkeit durch die Folgen eines Unfalls oder einer Berufskrankheit gemindert ist. Sie sollen diese Beurteilung für das Gericht nachvollziehbar machen, um eine entsprechende Würdigung des Sachverständigengutachtens zu ermöglichen. Im Revisionsverfahren ist die Feststellung, in welchem Ausmaß beim Kläger aus medizinischer Sicht eine Minderung der Erwerbsfähigkeit gegeben ist, nicht mehr überprüfbar.

Hat das Erstgericht die Feststellung getroffen, die medizinische MdE betrage 35 %, hätte das Berufungsgericht demnach nicht ohne Beweiswiederholung von dieser Feststellung abgehen und die medizinische MdE mit nur 30 % feststellen dürfen. Infolge Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes liegt darin ein dem Berufungsgericht unterlaufener Verfahrensmangel.