21.04.2006 Strafrecht

EuGH: Das maßgebende Kriterium für die Definition des Begriffes "dieselbe Tat" ist das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse


Schlagworte: ne bis in idem, dieselbe Tat, unterschiedlicher Verstoß, Identität der materiellen Tat
Gesetze:

Art 54 SDÜ (Schengener Durchführungsübereinkommen: ABl. 2000, L 239, S. 19)

Mit Urteil vom 09.03.2006 zur GZ C-436/04 hat sich der EuGH mit dem Doppelbestrafungsverbot befasst:

Der belgische Staatsangehörige Van Esbroeck wurde mit Urteil (vom Oktober 2000) eines erstinstanzlichen Gerichts in Bergen (Norwegen) zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt, weil er im Juni 1999 Betäubungsmittel unerlaubt nach Norwegen eingeführt hatte. Nach Verbüßung eines Teils seiner Strafe wurde er im Februar 2002 auf Bewährung entlassen und unter Begleitung nach Belgien zurückgebracht. Im November 2002 wurde in Belgien ein Verfahren gegen ihn eingeleitet, das im März 2003 zu einer Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr durch die Correctionele Rechtbank Antwerpen (Belgien) führte, weil er die vorgenannten Waren unerlaubt aus Belgien ausgeführt hatte.

Der Hof van Cassatie hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, welches Kriterium für die Anwendung des Begriffes "dieselbe Tat" im Sinne von Art 54 SDÜ maßgebend ist und insbesondere ob unerlaubte Verhaltensweisen, die in der Ausfuhr von Betäubungsmitteln aus dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats und in der Einfuhr dieser Betäubungsmittel in einen anderen Vertragsstaat bestehen und die zu Strafverfahren in den beiden betroffenen Staaten geführt haben, unter diesen Begriff fallen.

Dazu der EuGH: Da Art 54 SDÜ den Ausdruck "dieselbe Tat" verwendet, ergibt sich daraus, dass diese Vorschrift nur auf das Vorliegen der fraglichen Tat abstellt und nicht auf ihre rechtliche Qualifizierung. Art 54 bezweckt, zu verhindern, dass eine Person aufgrund der Tatsache, dass sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat in mehreren Vertragsstaaten verfolgt wird. Dieses Recht auf Freizügigkeit ist jedoch nur dann effektiv gewährleistet, wenn der Urheber einer Handlung weiß, dass er sich, wenn er in einem Mitgliedstaat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Mitgliedstaat deshalb verfolgt wird, weil diese Handlung in der Rechtsordnung des letztgenannten Mitgliedstaats einen unterschiedlichen Verstoß darstellt. Zudem würde - wegen der fehlenden Harmonisierung der nationalen Strafvorschriften - ein Kriterium, das auf der rechtlichen Qualifizierung der Tat oder auf dem geschützten rechtlichen Interesse beruht, ebenso viele Hindernisse für die Freizügigkeit im Schengen-Gebiet errichten, wie es Strafrechtssysteme in den Vertragsstaaten gibt. Daher ist das einzige maßgebende Kriterium für die Anwendung von Artikel 54 SDÜ das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände.

Artikel 54 SDÜ ist somit dahin auszulegen, dass das maßgebende Kriterium für die Anwendung dieses Artikels das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, ist, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse. Die strafbaren Handlungen, die in der Ausfuhr und der Einfuhr derselben Betäubungsmittel bestehen und in verschiedenen Vertragsstaaten des SDÜ strafrechtlich verfolgt worden sind, sind grundsätzlich als "dieselbe Tat" im Sinne des genannten Artikels 54 anzusehen, wobei die endgültige Beurteilung insoweit Sache der zuständigen nationalen Gerichte ist.