25.09.2008 Strafrecht

OGH: Vollständige Verschleierung der Angeklagten vor Gericht

Zu den unbestrittenen Grundregeln in Österreich üblicher menschlicher Kommunikation zählt es, das Gesicht unverhüllt zu lassen; es ist Sache der Angeklagten, die Bedenken auszuräumen, dieses Verhalten stelle eine bloß politisch-weltanschaulich motivierte Demonstration, für welche ein Gerichtssaal nicht der rechte Ort ist, dar


Schlagworte: Strafprozessrecht, vollständige Verschleierung der Angeklagten, ungeziemendes Benehmen, Religionsfreiheit
Gesetze:

§ 234 StPO, § 162 StPO, Art 9 MRK

GZ 13 Os 83/08t, 27.08.2008

OGH: Aus der Tatsache, dass der Schwurgerichtshof die vollständige Verschleierung der Angeklagten Mona S***** als ungeziemendes Benehmen nach § 234 StPO eingestuft hat, ist schon angesichts des ihr erteilten Hinweises, wonach "sie jederzeit wieder erscheinen kann, wenn sie die Bedeckung ihres Gesichts entfernt", Nichtigkeit infolge Voreingenommenheit oder Parteilichkeit des Schwurgerichtshofs aus Z 1 (§ 43 Abs 1 Z 3 StPO) oder 5 nicht abzuleiten.

Da es zu den unbestrittenen Grundregeln in Österreich üblicher menschlicher Kommunikation zählt, das Gesicht unverhüllt zu lassen (selbst durchsichtige Gesichtsschleier sind auf seltene Anlassfälle außerhalb des Gerichtssaals beschränkt), wäre es Sache der Beschwerdeführerin gewesen, überzeugend zu begründen, warum ihr Verhalten gegenüber Schwurgerichtshof und Geschworenen trotz ohnehin eingeräumter Möglichkeit, "bei Betreten und Verlassen des Gerichtssaals ihr Gesicht zu verschleiern und während der Verhandlung auch das Kopftuch (Bedeckung der Haare) zu tragen" und im Gerichtssaal geltendem Verbot von Fernseh-, Film- und Fotoaufnahmen (§ 22 MedienG; über welches jedenfalls der anwesende Verteidiger als informiert angesehen werden konnte), nicht bloß als politisch-weltanschaulich motivierte Demonstration, für welche ein Gerichtssaal nicht der rechte Ort ist, aufgefasst werden sollte. Denn dass der Schwurgerichtshof darin in sachverhaltsmäßiger Hinsicht eine Missachtung des Geschworenengerichts erblickt hatte, war der Angeklagten und ihrem Verteidiger eindeutig klar gemacht worden. Die Bedenken auszuräumen und so den Respekt vor der Würde des Gerichts trotz durch den Gesichtsschleier indizierter Missachtung auch für Dritte unmissverständlich klarzustellen, hat die Angeklagte nicht unternommen, weswegen die verweigerte Wiederzulassung im Ergebnis zu Recht erfolgt ist.

Betont sei jedoch, dass das aus Gründen der Beweistauglichkeit geltende Verhüllungsverbot des § 162 StPO nur Zeugen betrifft und die Vorschrift des § 5 Abs 1 erster Satz StPO einer Ausdehnung auf Angeklagte entgegensteht.

Bleibt anzumerken, dass die Verweigerung der Erfüllung allgemeiner Bürgerpflichten nicht von Art 9 MRK erfasst wird, mit der Ausübungsform "Beachtung religiöser Bräuche" zwar neben Gebräuchen, die in Zusammenhang mit kultischen Handlungen stehen, auch solche Handlungen geschützt werden, welche in den Bereich des Alltagslebens gehören, die Ausübung eines religiösen Brauchs allerdings nicht vorliegt, wenn eine Verhaltensweise keine in der betroffenen Religionsgemeinschaft übliche Praxis darstellt, und überdies § 234 StPO als gesetzliche Eingriffsermächtigung iSd Art 9 Abs 2 MRK anzusehen ist, dessen Rechtfertigungsvoraussetzungen weitestgehend denjenigen der Abs 2 der Art 8, 10 und 11 MRK entsprechen.

Aufgrund der ausdrücklichen Zusicherung, bei Entschleierung auch bloß des Gesichts jederzeit wieder zur Verhandlung zugelassen zu werden, im Verein mit dem bereits erwähnten Verbot von Fernseh-, Film- und Fotoaufnahmen sowie der Erlaubnis, "bei Betreten und Verlassen des Gerichtssaals" das Gesicht verschleiert zu haben und "während der Verhandlung das Kopftuch (Bedeckung der Haare)" tragen zu dürfen, sind auch unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit der sitzungspolizeilichen Maßnahme grundrechtliche Schranken nicht überschritten worden.

Dass eine vor Beeidigung der Geschworenen oder Stellung der von § 240 StPO vorgeschriebenen Fragen (§§ 304 f StPO) erfolgte sitzungspolizeiliche Maßnahme nach § 234 StPO weder mit Nichtigkeit bedroht ist noch einen Besetzungsmangel nach § 345 Abs 1 Z 1 StPO zur Folge hat, zeigt bereits der klare Gesetzeswortlaut.