01.10.2009 Strafrecht

OGH: Erneuerung des Strafverfahrens gem § 363a StPO - zur Erneuerungskompetenz des OGH

Subsidiarität im ohne vorangegangene Entscheidung des EGMR durchgeführten Erneuerungsverfahren bedeutet (bloß) Erschöpfung des Instanzenzugs in Ansehung der nach grundrechtlichen Maßstäben zu prüfenden (Einzel-)Entscheidung; solcherart können Fehlentwicklungen im noch anhängigen Strafverfahren aufgezeigt und die Grundrechtskonformität einzelner gerichtlicher Entscheidungen im Interesse einer einheitlichen, menschenrechtlichen Standards entsprechenden Rechtsanwendung klargestellt werden


Schlagworte: Erneuerung des Strafverfahrens, Erneuerungskompetenz des OGH
Gesetze:

§ 363a StPO, § 292 StPO

GZ 13 Os 16/09s, 16.04.2009

Richard M***** begehrt die Verfahrenserneuerung gem § 363a StPO im Wesentlichen mit der Begründung, durch die bekämpften Beschlüsse sei es zu einer "Verletzung des Hausrechtes gem Art 8 Abs 1 MRK" gekommen.

OGH: In gefestigter Rechtsprechung bejaht der OGH die Möglichkeit der Erneuerung eines Strafverfahrens gem § 363a StPO, wenn er selbst aufgrund eines darauf gerichteten Antrags eine Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines untergeordneten Strafgerichts feststellt. Schon die weite Umschreibung des möglichen Prüfungsgegenstands bringt zum Ausdruck, dass diese Erneuerungskompetenz nicht auf in rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren ergangene (End-)Entscheidungen beschränkt ist. Vielmehr sieht sich der OGH aufgerufen, als - nicht an völkerrechtliche Beschränkungen als Ausdruck staatlicher Souveränität gebundene - oberste Instanz in Strafrechtssachen (Art 92 Abs 1 B-VG) über die Einhaltung von Grundrechten in Strafverfahren zu wachen und dabei nicht bloß die Rechtsprechung des EGMR nachzuvollziehen, sondern erforderlichenfalls selbst Akzente ihrer Weiterbildung zu setzen.

Die Übernahme der in Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen erfolgt sinngemäß, was die Unbeachtlichkeit der spezifisch aus dem völkerrechtlichen Charakter der MRK sich ergebenden Zugangsbeschränkungen für das (allein innerstaatliche) Erneuerungsverfahren bedingt. Träger der in der MRK - nicht auch nach Art und Weise ihrer innerstaatlichen Umsetzung - festgeschriebenen Verpflichtung zur Einhaltung der Menschenrechte sind nämlich die einzelnen Mitgliedstaaten, weshalb der EGMR eine Konventionsverletzung erst dann festzustellen befugt ist, wenn dem belangten Mitgliedstaat zuvor die Möglichkeit eingeräumt wurde, die gebotenen Maßnahmen zur Beseitigung der in Rede stehenden Verstöße selbst zu ergreifen. Subsidiarität im ohne vorangegangene Entscheidung des EGMR durchgeführten Erneuerungsverfahren bedeutet demnach (bloß) Erschöpfung des Instanzenzugs in Ansehung der nach grundrechtlichen Maßstäben zu prüfenden (Einzel-)Entscheidung. Solcherart können Fehlentwicklungen im noch anhängigen Strafverfahren aufgezeigt und die Grundrechtskonformität einzelner gerichtlicher Entscheidungen im Interesse einer einheitlichen, menschenrechtlichen Standards entsprechenden Rechtsanwendung klargestellt werden.

Im Übrigen bedeutet die Erneuerungsmöglichkeit (auch ohne vorangegangene EGMR-Entscheidung) keine unzulässige Beschränkung des aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art 6 Abs 1 MRK) iVm der Präambel der Konvention abgeleiteten Anspruchs auf Rechtssicherheit, maW auf Respektierung der - nach Maßgabe nur des innerstaatlichen Rechtsschutzsystems zu beurteilenden - Rechtskraft von Entscheidungen durch den Staat selbst, denn der solcherart geschaffene (subsidiäre) Rechtsbehelf kann nur unter strikten zeitlichen und inhaltlichen Voraussetzungen (Art 34 f MRK) von einer im vorangegangenen Strafverfahren ohnehin beteiligten Partei ergriffen werden und hat nicht (unmittelbar) die neuerliche Entscheidung in der Sache selbst, sondern die Beseitigung von Konventionsverletzungen durch Überprüfung der in Rede stehenden Entscheidungen beschränkt auf grundrechtliche Aspekte zum Gegenstand. Zudem ist die Wiederaufnahme des Strafverfahrens auch zur Beseitigung schwerer, den Ausgang des Verfahrens berührender Mängel in der Konvention ausdrücklich vorgesehen (Art 4 Z 2 zweiter Fall 7. ZPMRK) und wurde vom Ministerkomitee des Europarates als Möglichkeit der Umsetzung von EGMR-Entscheidungen empfohlen.

In Strafsachen ist daher die Aufhebung eines grundrechtswidrigen Schuldspruchs des untergeordneten Strafgerichts zum Vorteil des Angeklagten stets möglich. Wurde hingegen über zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren entschieden, ist die Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft grundsätzlich auch unter dem Aspekt einer iSd Art 1 des 1. ZPMRK geschützten Position zu prüfen: Bei untrennbar mit einem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) prävaliert im Strafverfahren der Schutz des Angeklagten; für den Privatbeteiligten allenfalls nachteilige Wirkungen einer Aufhebungsentscheidung wären als Schadenersatzansprüche im Amtshaftungsverfahren geltend zu machen. Wird hingegen ausnahmsweise im Strafverfahren über - vertragsautonom iSd Art 6 MRK betrachtet - zivilrechtliche, nicht akzessorische Ansprüche entschieden (§§ 6 ff, 9 f MedienG), ist die Entscheidung in der Sache, also auch die Aufhebung der Entscheidung des untergeordneten Strafgerichts jedenfalls dann möglich, wenn der Antragsgegner (als zuvor am Verfahren Beteiligter) einen Erneuerungsantrag unter den oben dargestellten strikten Voraussetzungen gestellt hat, gleichviel, ob die Aufhebung in Stattgebung dieses Antrags oder einer aus dessen Anlass erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes erfolgt. Lediglich bei einer nicht von einem Antrag nach § 363a StPO begleiteten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (oder einem Antrag gem § 362 Abs 1 Z 2 StPO) kann von dem Ermessen iSd § 292 letzter Satz StPO nicht Gebrauch gemacht werden, während die Feststellung der zum Nachteil eines Verfahrensbeteiligten sich auswirkenden Gesetzes-(Konventions-)verletzung stets (auch zugunsten des Privatanklägers bzw Antragstellers im vorangegangenen Verfahren) möglich ist, weil durch sie die geschützte Rechtsposition eines anderen Verfahrensbeteiligten - iS etwa eines Verstoßes gegen das Verbot der reformatio in peius - nicht tangiert wird. Diese höchstgerichtliche Feststellung einer Gesetzesverletzung hat im Übrigen Bindungswirkung in einem allfälligen Amtshaftungsverfahren und ist solcherart geeignet, die Opfereigenschaft iSd Art 34 MRK zu beseitigen.