29.10.2009 Strafrecht

OGH: Einstellung wegen Geringfügigkeit nach § 191 StPO - Verletzung des Art 6 Abs 2 MRK bei "festgestellter Schuld"?

Entscheidend für die Beurteilung einer relevierten Verletzung des Art 6 Abs 2 MRK ist nach stRsp des EGMR nicht die exakte Wortwahl, sondern der Sinngehalt der in Rede stehenden Formulierungen; dieser zeigt sich nicht zuletzt an den rechtlichen Schlussfolgerungen, die das Gericht aus der Entscheidungsbegründung zieht


Schlagworte: Einstellung wegen Geringfügigkeit, Unschuldsvermutung, Schuldfeststellung
Gesetze:

§ 191 StPO, Art 6 Abs 2 MRK

GZ 14 Os 25/09x, 12.05.2009

Das gegen Bernhard M***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB geführte Strafverfahren wurde gem § 191 Abs 1 und 2 StPO (wegen Geringfügigkeit) eingestellt.

Bernhard M***** begehrt die Verfahrenserneuerung gem § 363a StPO, weil seiner Ansicht nach "durch die Ausführungen im angefochtenen Beschluss, wodurch die Schuld des Bf festgestellt wird" das Gebot der Unschuldsvermutung nach Art 6 Abs 2 MRK (§ 8 StPO) verletzt worden sei.

OGH: Zwar kommt eine Verletzung des Art 6 Abs 2 MRK grundsätzlich auch dann in Frage, wenn (bloß) in der Begründung einer (nicht verurteilenden) gerichtlichen Entscheidung Schuldannahmen entsprechend deutlich zum Ausdruck gebracht werden; bei dieser Beurteilung können aber die Stellung der Entscheidung im Verfahren und ihre tatsächlichen Auswirkungen auf den Betroffenen nicht gänzlich außer Betracht bleiben.

§ 191 StPO normiert ein amtswegig wahrzunehmendes, auf verfahrensökonomischen Überlegungen beruhendes prozessuales Verfolgungshindernis, bei dessen beschlussmäßiger Anwendung auch in oder nach der Hauptverhandlung die Feststellung tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Handelns des Angeklagten nicht nur nicht geboten, sondern tunlichst zu vermeiden ist. Vielmehr hat das Gericht (die Staatsanwaltschaft) - der verfahrensökonomischen Zielsetzung dieser Regelung entsprechend - die Notwendigkeit einer Bestrafung oder diversionellen Vorgehens anhand des in einer Gesamtabwägung zu ermittelnden (geringen) Störwerts der Tat zu prüfen und bei negativem Ergebnis von einer weiteren Erörterung des für diese Prüfung nur hypothetisch zu Grunde gelegten Sachverhalts Abstand zu nehmen.

Entscheidend für die Beurteilung einer relevierten Verletzung des Art 6 Abs 2 MRK ist nach stRsp des EGMR nicht die exakte Wortwahl, sondern der Sinngehalt der in Rede stehenden Formulierungen. So bewirkt die Verwendung "zweideutiger und wenig zufriedenstellender" Ausdrücke per se noch keine Konventionsverletzung, wenn die Entscheidungsbegründung der Sache nach bloß eine Verdachtslage und keine Schuldfeststellung enthält, während umgekehrt auch eine vorsichtige Wortwahl allein die Einhaltung des Gebots der Unschuldsvermutung nicht sicherzustellen vermag. Der Sinngehalt einer Formulierung zeigt sich nicht zuletzt an den rechtlichen Schlussfolgerungen, die das Gericht aus der Entscheidungsbegründung zieht. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass - im Gegensatz zu den Fällen nicht gewährter Haftentschädigung oder auferlegter Kostenersatzpflicht trotz Verfahrenseinstellung - mit dem hier bekämpften Beschluss keinerlei rechtliche Konsequenzen zum Nachteil des Angeklagten verbunden sind, der solcherart mit Sperrwirkung iSd Art 4 Z 1 7. ZPMRK außer Verfolgung gesetzt wurde. Die Entscheidungsbegründung vermag nämlich - ungeachtet der missverständlichen Wortwahl - unter keinen Umständen bindende Wirkung für ein allenfalls folgendes zivilrechtliches oder disziplinarrechtliches Verfahren zu entfalten.

Überdies ist fallbezogen zu beachten: Art 6 Abs 2 MRK soll als Teilaspekt des Anspruchs auf ein faires Verfahren insbesondere auch sicherstellen, dass Richter in Ausübung ihres Amtes nicht mit der vorgefassten Meinung in ein Verfahren gehen, der Angeklagte habe die Tat begangen. Diese Gefahr ist aber dann nicht (mehr) gegeben, wenn das Gericht - wie hier - seine Entscheidung nach Durchführung der Hauptverhandlung unter Berücksichtigung der Verantwortung des Angeklagten trifft und dabei zwar von einer diesen nicht gänzlich entlastenden Sachverhaltsvariante ausgeht, ohne ihm jedoch die in Rede stehende Tat strafrechtlich zuzurechnen.