14.01.2010 Strafrecht

OGH: Üble Nachrede - zur Gewichtung des Persönlichkeitsschutzes von Politikern im Verhältnis zum Recht auf freie Meinungsäußerung

Art 10 MRK gewährt dem kritischen Werturteil eine sehr weitreichende verfassungsrechtliche Privilegierung und zieht die Grenzen zulässiger Kritik an Politikern weiter als bei Privatpersonen, räumt aber keineswegs eine schrankenlose Meinungs- und Kritikfreiheit ein; die Grenze liegt im (durch entsprechendes Tatsachensubstrat nicht gedeckten) Vorwurf einer vorsätzlichen strafbaren Handlung, worin ein nicht mehr vertretbarer Wertungsexzess zu sehen ist


Schlagworte: Üble Nachrede, Persönlichkeitsschutz, Recht auf freie Meinungsäußerung
Gesetze:

§111 StGB, Art 10 MRK

GZ 15 Os 171/08y, 14.10.2009

Der Angeklagte hat durch die auf einer Website verbreiteten Behauptungen "Die gute Meldung zum Jahresbeginn: Liese P, Bundesministerin für Folter und Deportation, ist tot.", sowie "Frau P war eine Schreibtischtäterin, wie es viele gab in der grausamen Geschichte dieses Landes: völlig abgestumpft, gleichgültig gegen die Folgen ihrer Gesetze und Erlässe, ein willfähriges Werkzeug einer rassistisch verseuchten Beamtenschaft. Kein anständiger Mensch weint ihr eine Träne nach.", die am 31. Dezember 2006 verstorbene Bundesministerin für Inneres Liese P in einem Medium einer verächtlichen Gesinnung geziehen bzw eines unehrenhaften Verhaltens beschuldigt und wurde des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs 1 und Abs 2 StGB für schuldig erkannt. Durch die inkriminierten Äußerungen wurde damit dem Medienkonsumenten der Eindruck vermittelt, die Bundesministerin für Inneres Liese P habe Folter und Deportation von Schubhäftlingen tatsächlich angeordnet bzw toleriert und ihre politische Funktion in unvergleichlich verwerflicher und verabscheuenswürdiger Art und Weise aus rassistischen, ausländerfeindlichen und sadistischen Motiven (mit Affinität zu nationalsozialistischem Gedankengut) ausgeübt, wodurch sie als "beispiellose Verbrecherin" dargestellt wurde. OGH: Nach gesicherter Rspr des EGMR gewährt Art 10 MRK dem kritischen Werturteil eine sehr weitreichende verfassungsrechtliche Privilegierung, räumt aber keineswegs eine schrankenlose Meinungs- und Kritikfreiheit ein. Denn auch gegenüber Politikern sind (Un)Werturteile ohne (einzelfallbezogen) hinreichendes Tatsachensubstrat oder Wertungsexzesse vom Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit nicht gedeckt. Solcherart ist der Persönlichkeitsschutz von Politikern zwar insofern eingeschränkt, als die Grenzen der zulässigen Kritik bei ihnen weiter gezogen sind als bei Privatpersonen. Die Grenze ist aber dort zu ziehen, wo unabhängig von den zur Debatte gestellten rein politischen Verhaltensweisen persönlich unehrenhaftes Verhalten vorgeworfen wird und bei Abwägung der Interessen ein nicht mehr vertretbarer Wertungsexzess vorliegt. Damit findet auch die Zulässigkeit politischer Kritik, die durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung weithin privilegiert ist, ihre Grenze im (durch entsprechendes Tatsachensubstrat nicht gedeckten) Vorwurf einer vorsätzlichen strafbaren Handlung.

Die Äußerungen des Antragstellers leisteten keinerlei Beitrag zur öffentlichen Debatte zur Frage der staatlichen Migrations- und Flüchtlingspolitik, die an sich ein Thema von besonderem öffentlichen Interesse ist, weil sie - bar jeder Sachlichkeit - primär auf eine Diffamierung der Person der Verstorbenen abzielten. Auch wenn Kritik verletzen, schockieren oder verstören darf und dem Vertreter einer NGO auch ein gewisses Maß an Provokation zuzubilligen ist, gaben die vom Kontext einer politischen Diskussion losgelösten und die in Abs 2 des Art 10 MRK angesprochenen Pflichten und Verantwortungen ("duties and responsibilities") gänzlich negierenden Textstellen den Gerichten maßgebende und ausreichende Gründe für die in der Verurteilung des Antragstellers gelegene Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung.