11.03.2010 Strafrecht

OGH: Zur Änderung der objektiven Erkennbarkeit eines die Nichtigkeit begründenden Umstandes, welche eine Rügeobliegenheit nach § 281 Abs 1 Z 1 StPO auslöst: seit Inkrafttreten des Strafprozessreformgesetzes am 1.1.2008 wird der Grundsatz zunehmend in Frage gestellt, dass rechtskundigen Verteidigern die erforderlichen Rechtskenntnisse ohne weiteres unterstellt werden können

Der Grundsatz, dass rechtskundigen Verteidigern die erforderlichen Rechtskenntnisse ohne weiteres unterstellt werden können, wird seit Inkrafttreten des StPRefG am 1.1.2008 durch Anpassungsgesetzgebung und mehrfach unterjährige, stets über den gesamten Regelungsbereich der StPO verstreute Novellierungen für das anzuwendende Strafprozessrecht zunehmend in Frage gestellt; aufgrund eines die Besetzungsänderung begleitenden, jedoch irreführenden Einführungserlasses des BMJ wird bei im Falle einer gegen § 32 Abs 1 StPO verstoßenden Gerichtsbesetzung auch beim rechtsanwaltlich vertretenen Bf die Rügeobliegenheit § 281 Abs 1 Z 1 StPO nicht ausgelöst, sodass dieser Mangel auch bei Unterbleiben der Rüge zur Urteilsnichtigkeit führt


Schlagworte: Nichtigkeitsgründe, nicht gehörige Gerichtsbesetzung, Rügeobliegenheit, objektive Erkennbarkeit, rechtskundiger Vertreter
Gesetze:

§ 281 Abs 1 Z 1 StPO, § 32 Abs 1 StPO

GZ 13 Os 115/09z, 17.12.2009

Bei der am 26.6.2009 durchgeführten Hauptverhandlung war das erkennende Gericht aus zwei Richtern und zwei Schöffen zusammengesetzt. OGH: Mit BGBl I 2009/52 (in Kraft seit 1.6.2009) wurde der letzte Satz des § 32 Abs 1 StPO dahin geändert, dass das LG als Schöffengericht aus einem Richter und zwei Schöffen besteht, womit das Erstgericht nicht gehörig besetzt war. Die gegenteilige, in einem Erlass des BMJ geäußerte Rechtsansicht, wonach für die Änderung der Senatszusammensetzung bei den Landesgerichten als Schöffengerichten "vom Grundsatz der perpetuatio fori auszugehen" und demnach das Strafverfahren in der Besetzung zu führen sei, die im Zeitpunkt der Rechtswirksamkeit der Anklage gesetzlich vorgesehen gewesen ist, vermengt Gerichtsbesetzung mit Gerichtszuständigkeit. Aus dem Blickwinkel des § 281 Abs 1 StPO führt nicht gehörige Gerichtsbesetzung zur Urteilsnichtigkeit aus dem Grund der Z 1, soweit der Bf seiner Rügeobliegenheit nachgekommen ist. Diese wird aber nur dann ausgelöst, wenn der die Nichtigkeit begründende Tatumstand dem Bf noch vor oder während der Hauptverhandlung bekannt geworden ist. Dabei muss der Angeklagte auch über die rechtlichen Implikationen eines solchen Sachverhalts wenigstens soweit Bescheid wissen, dass er, auch ohne juristische Fachkenntnis zu besitzen, den (rechtlichen) Sinnzusammenhang als insoweit relevant versteht. Beim Verteidiger kommt es im Regelfall auf die rechtsrichtige Beurteilung im Allgemeinen nicht an, weil bei ihm die erforderlichen Rechtskenntnisse ohne weiteres unterstellt werden können. In concreto kann jedoch selbst bei den rechtskundigen Verteidigern nicht einfach von der erforderlichen Kenntnis der prozessualen Rechtslage ausgegangen werden, weil die Besetzungsänderung von einem im RIS Justiz zur Verfügung gestellten Einführungserlass begleitet wurde, der den Rechtsanwender über deren Konsequenzen für Hauptverfahren über im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Novelle bereits rechtswirksame Anklageschriften in die Irre führte. Die in einem Rechtsstaat sonst ohne weiteres zu rechtfertigende Grundannahme, nach der wenigstens professionell damit befassten Personen Kenntnis sowohl der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften als auch deren systematischen Zusammenhangs zuzusinnen ist, wird seit Inkrafttreten des StPRefG am 1.1.2008 durch Anpassungsgesetzgebung und mehrfach unterjährige, stets über den gesamten Regelungsbereich der StPO verstreute Novellierungen für das anzuwendende Strafprozessrecht zunehmend in Frage gestellt.