05.08.2010 Strafrecht

OGH: Ersuchen einer Staatsanwaltschaft um Amts- oder Rechtshilfe gem § 76 StPO durch Übersendung eines Kartellakts im Rahmen des ihr obliegenden gesetzlichen Wirkungsbereichs - hat das Kartellgericht diesem Ersuchen ohne Rücksicht auf die in § 39 Abs 2 KartG normierten besonderen Parteirechte zu entsprechen?

Stellt eine Staatsanwaltschaft ein Begehren auf Amtshilfe durch Übersendung eines Kartellakts im Rahmen des ihr obliegenden gesetzlichen Wirkungsbereichs, den Verdacht einer Straftat, die nicht bloß auf Verlangen einer hiezu berechtigten Person zu verfolgen ist, in einem auf die Erforschung der materiellen Wahrheit abzielenden Ermittlungsverfahren von Amts wegen aufzuklären (§ 2 Abs 1, § 3 Abs 1 StPO), hat das Kartellgericht diesem Ersuchen ohne Rücksicht auf die in § 39 Abs 2 KartG normierten besonderen Parteirechte im Kartellverfahren zu entsprechen; über einen Antrag analog § 76 Abs 2a StPO, wenn das ersuchte Gericht das Kartellgericht ist, hat der OGH als Kartellobergericht zu entscheiden


Schlagworte: Amts- und Rechtshilfe, Kartellrecht, Schutz von Geschäftsgeheimnissen
Gesetze:

§ 76 StPO, § 39 Abs 2 KartG

GZ 16 Ok 3/10, 22.06.2010

Mit am 3. 5. 2010 beim OGH eingelangtem "Antrag gem § 76 Abs 2a StPO" begehrt die Staatsanwaltschaft Wien, der OGH möge feststellen, dass die durch das Kartellgericht verfügte Beschränkung des Akteneinsichtsrechts unrechtmäßig ist. Der Antrag ergehe im gegen mehrere Beschuldigte geführten Ermittlungsverfahren 601 St 20/07m wegen §§ 146 ff, 168b StGB. Das Kartellgericht habe der Staatsanwaltschaft Wien untersagt, den Parteien des Strafverfahrens Akteneinsicht in den angeforderten Kartellakt zu gewähren. Implizit werde damit der Strafverfolgungsbehörde verweigert, im Kartellverfahren gewonnene Erkenntnisse (insbesondere Einvernahmeprotokolle der dort als Zeugen vernommenen Beschuldigten) zu verwerten. Die Beschuldigten hätten im Strafverfahren von ihrem Recht Gebrauch gemacht, sich nicht selbst zu belasten; im Kartellverfahren hätten sie jedoch fast alle die Bildung eines Kartells und die Absprachepraxis zugestanden. Diese Ergebnisse des Kartellverfahrens seien für die Aufklärung der den Beschuldigten vorgeworfenen Straftaten erforderlich und müssten in den Ermittlungsakt der Staatsanwaltschaft Eingang finden, dies auch, um den Beschuldigten die Möglichkeit zu eröffnen, die Strafverfolgungsmaßnahmen nachvollziehen und sich zu den gegen sie erhobenen Anschuldigungen rechtfertigen zu können. Die Staatsanwaltschaft sei zur amtswegigen Ermittlung verpflichtet (§ 2 Abs 1 StPO) und habe alle Tatsachen aufzuklären, die für die Ermittlung der Tat von Bedeutung sind (§ 3 Abs 1 StPO); diese Aufgabe könne sie nur erfüllen, wenn die Verfolgungshandlungen nicht durch eine von einem ersuchten Gericht verfügte Beschränkung der Akteneinsicht - die im Kern einem dem österreichischen Strafprozessrecht fremden Verwertungsverbot gleichkomme - vereitelt würden. Ein Antrag nach § 76 Abs 2a StPO sei zwar an das OLG zu richten; da sich die Staatsanwaltschaft Wien jedoch durch eine Entscheidung des OLG Wien beschwert erachte, sei in teleologischer Interpretation der Bestimmung der OGH anzurufen.

OGH: Zuständigkeit:Vorauszuschicken ist, dass im gegenständlichen Verfahren nicht über einen Antrag einer Verfahrenspartei oder einer verfahrensfremden Person über die Frage der Berechtigung und des Umfangs der Akteneinsicht in einen Kartellakt zu entscheiden ist, sondern über eine Meinungsverschiedenheit zwischen Organen der Gerichtsbarkeit, nämlich einer Staatsanwaltschaft (vgl § 90a B-VG) und dem OLG Wien als Kartellgericht. Ausgelöst wurde das Verfahren durch ein Ersuchen der Staatsanwaltschaft um Aktenübersendung. Dieses Ersuchen ist als Ersuchen um Amtshilfe iSd Art 22 B-VG zu beurteilen. Nach dieser Bestimmung sind alle Organe des Bundes, der Länder und der Gemeinden im Rahmen ihres gesetzmäßigen Wirkungsbereichs zur wechselseitigen Hilfeleistung verpflichtet.

Aus dem bloß internen Charakter der Amtshilfe folgt, dass Ersuchen um Amtshilfe ebenso wie deren (teilweise) Ablehnung keine Beschlüsse sind.

Wird einem Ersuchen einer Staatsanwaltschaft um Amts- oder Rechtshilfe von einem ersuchten Gericht nicht oder nicht vollständig entsprochen, so hat das dem ersuchten Gericht übergeordnete OLG auf Antrag der Staatsanwaltschaft ohne vorhergehende mündliche Verhandlung über die Rechtmäßigkeit der unterlassenen Amts- oder Rechtshilfe oder über den sonstigen Gegenstand der Meinungsverschiedenheit zu entscheiden (§ 76 Abs 2a StPO).

Mit dieser § 40 JN nachempfundenen Bestimmung soll eine Gesetzeslücke geschlossen werden, die sich daraus ergibt, dass ein (zivilgerichtliches) Verfahren über die Berechtigung der Ablehnung eines Rechtshilfeersuchens einer Staatsanwaltschaft nicht vorgesehen ist und diese auch keine Parteistellung in einem derartigen Verfahren erlangen könnte. Das OLG soll mit Beschluss über Meinungsverschiedenheiten zwischen Staatsanwaltschaft und (Zivil-)Gericht über Grund oder Umfang der Rechtshilfe entscheiden.

Im kartellgerichtlichen Verfahren ist das OLG Wien als Kartellgericht für das ganze Bundesgebiet zuständig; der Rechtszug gegen dessen Beschlüsse geht in zweiter und letzter Instanz an den OGH als Kartellobergericht (§ 58 KartG). Ein dem ersuchten Kartellgericht iSd § 76 Abs 2a StPO übergeordnetes Oberlandesgericht besteht daher nicht.

Wie eine Zusammenschau der § 76 Abs 2a StPO, §§ 40, 47 Abs 1 JN erkennen lässt, lag es in der Absicht des Gesetzgebers, dass im Falle eines Konflikts zwischen Organen der Gerichtsbarkeit iZm Amts- und Rechtshilfe ein übergeordnetes Gericht zur Entscheidung angerufen werden kann. Bei Fassung des § 76 Abs 2a StPO wurde aber offensichtlich nicht bedacht, dass ausnahmsweise als Gericht erster Instanz auch das OLG Wien (als Kartellgericht) tätig sein kann. Es ist kein Grund erkennbar, warum die dort vorgesehene Möglichkeit, Meinungsverschiedenheiten zwischen Organen der Gerichtsbarkeit über den Umfang der Rechtshilfe auszuräumen, allein dann nicht zur Verfügung stehen soll, wenn das ersuchte Gericht das Kartellgericht ist. Diese planwidrige Lücke im Gesetz ist mittels Analogie zu schließen, weil für eine verschiedene Behandlung der Sachverhalte kein Grund zu finden ist. Über einen Antrag analog § 76 Abs 2a StPO, wenn das ersuchte Gericht das Kartellgericht ist, hat deshalb der OGH als Kartellobergericht zu entscheiden.

Besetzung:Zwischenerledigungen des Kartellgerichts trifft dessen Vorsitzender allein (§ 62 Abs 1 KartG); Rechtsmittel gegen solche Entscheidungen sind dem Dreiersenat des Kartellobergerichts zugewiesen (§ 62 Abs 2 KartG). In sinngemäßer Anwendung dieser Bestimmungen ist vom OGH über den Antrag der Staatsanwaltschaft Wien nach § 76 Abs 2a StPO im Dreiersenat zu entscheiden, weil eine solche Entscheidung kein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung ist, die in oder über eine dem Kartellgericht zugewiesene Sache ergeht und damit über eine Zwischenerledigung hinausgeht.

Berechtigung:§ 39 KartG (Schutz von Geschäftsgeheimnissen) bestimmt in seinem zweiten Absatz, dass in die Akten des Kartellgerichts am Verfahren nicht als Partei beteiligte Personen nur mit Zustimmung der Parteien Einsicht nehmen können. Mit dieser Spezialbestimmung soll nach den Materialien die sonst nach § 219 ZPO gegebene Möglichkeit des Gerichts, Akteneinsicht auch ohne Zustimmung der Parteien bei rechtlichem Interesse zu gewähren, ausgeschlossen werden, um das Interesse der Bundeswettbewerbsbehörde an der Erlangung von Auskünften und der damit ermöglichten Aufdeckung von Wettbewerbsverstößen im öffentlichen Interesse zu unterstützen.

Die Auffassung, § 39 Abs 2 KartG könne die Pflicht eines ersuchten Gerichts, Amtshilfe zu leisten, beschränken, ist in dieser Allgemeinheit verfehlt.

Die Pflicht zur Amts- und Rechtshilfe ist verfassungsgesetzlich angeordnet (§ 22 B-VG). Sie wird für den Bereich des Strafverfahrens in § 76 StPO zulässigerweise präzisiert und durch das Amtsgeheimnis, den Datenschutz und sonstige gesetzliche Geheimhaltungspflichten (zB Bankgeheimnis uä) beschränkt.

Eine spezifische behördliche Geheimhaltungspflicht im zuletzt genannten Sinn wird in § 39 Abs 2 KartG nicht normiert.

Auch datenschutzrechtliche Erwägungen stehen der Amtshilfe im Anlassfall nicht entgegen. Geschäftsgeheimnisse iSd § 38 Abs 2 KartG sind keine sensiblen (und damit besonders schutzwürdigen) Daten iSd § 4 Z 2 DSG. Es gilt für sie daher die Bestimmung des § 8 Abs 1 Z 4 DSG, wonach schutzwürdige Geheimhaltungsinteressen bei Verwendung nicht-sensibler Daten dann nicht verletzt sind, wenn überwiegende berechtigte Interessen des Auftraggebers oder eines Dritten die Verwendung erfordern. Das ist gem § 3 Z 2 DSG dann der Fall, wenn die Verwendung der Daten durch Auftraggeber des öffentlichen Bereichs in Erfüllung der Verpflichtung zur Amtshilfe geschieht. Diese Bestimmung stellt auf die Amtshilfe iSd Art 22 B-VG ab.

Für das Strafverfahren stellt § 76 Abs 2 StPO das Verhältnis zwischen Amtshilfe und Verschwiegenheitspflicht insofern klar, als Ersuchen ua von Staatsanwaltschaften, die sich auf Straftaten bestimmter Personen beziehen, grundsätzlich ohne Rücksicht auf bestehende Verschwiegenheitspflichten zu beantworten sind. Nach dem Willen des Gesetzgebers wird damit ein Vorrang strafgerichtlicher Erhebungsersuchen vor der Amtsverschwiegenheit statuiert.

Ergänzend ist darauf zu verweisen, dass in einem Kartellakt enthaltene Geschäftsgeheimnisse, die infolge Erfüllung eines Amtshilfeersuchens Bestandteil des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens werden, jedenfalls unter den Schutzzweck des § 54 StPO fallen. Nach dieser Bestimmung ist es dem Beschuldigten und seinem Verteidiger sowie (gem § 68 Abs 3 StPO) Opfern, Privatbeteiligten und Privatanklägern untersagt, Informationen, die sie im Verfahren in nicht öffentlicher Verhandlung oder im Zuge einer nicht öffentlichen Beweisaufnahme oder durch Akteneinsicht erlangt haben, soweit sie personenbezogene Daten anderer Beteiligter des Verfahrens oder Dritter enthalten und nicht in öffentlicher Verhandlung vorgekommen sind oder sonst öffentlich bekannt wurden, in einem Medienwerk oder sonst auf eine Weise zu veröffentlichen, dass die Mitteilung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird, wenn dadurch schutzwürdige Geheimhaltungsinteressen anderer Beteiligter des Verfahrens oder Dritter, die gegenüber dem öffentlichen Informationsinteresse überwiegen, verletzt würden.