07.10.2010 Strafrecht

OGH: Einstellung des Ermittlungsverfahrens und Fortführungsantrag - erhebliche Bedenken iSd § 195 Abs 1 Z 2 StPO

Aus der geforderten deutlichen und bestimmten Bezeichnung jener Gründe, aus denen die erheblichen Bedenken abzuleiten sind (§ 195 Abs 2 dritter Satz StPO) und der entsprechenden Pflicht des Gerichts, auf das Bezeichnungserfordernis gegebenenfalls hinzuweisen (§ 196 Abs 1 zweiter Satz StPO), ist ein auf den Antrag beschränkter Prüfungsumfang abzuleiten


Schlagworte: Einstellung des Ermittlungsverfahrens, Staatsanwaltschaft, Fortführungsantrag, erhebliche Bedenken, Begründung, auf Antrag beschränkter Prüfungsumfang
Gesetze:

§§ 190 ff StPO

GZ 12 Os 29/10x, 12.08.2010

OGH: Dem Anklagegrundsatz (Art 90 Abs 2 B-VG, § 4 Abs 1 StPO) zufolge obliegt der Staatsanwaltschaft die Beurteilung, ob aufgrund eines ausreichend geklärten Sachverhalts eine Verurteilung nahe liegt und demnach eine Anklageerhebung (§ 210 Abs 1 StPO) oder ein diversionelles Vorgehen (§§ 198 ff StPO) indiziert ist.

Liegt nach hinreichender Sachverhaltsklärung eine Verurteilung nicht nahe, sondern ist vielmehr ein Freispruch wahrscheinlicher als der Schuldspruch, erfordert das strafprozessuale Legalitätsprinzip die Einstellung des Ermittlungsverfahrens.

In diesem Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass der aus dem Legalitätsprinzip ableitbare Ausschluss eines Handlungs- oder Auswahlermessens der Staatsanwaltschaft bei ihrer Entscheidung über eine Anklageerhebung bzw eine alternativ gebotene Diversionsanwendung oder über eine Verfahrenseinstellung dort an Grenzen stößt, wo es um die Auslegung unbestimmter Gesetzesbegriffe, insbesondere normativer Deliktsmerkmale oder um die Beweiswürdigung und die damit verbundene, von der Staatsanwaltschaft autonom zu treffenden Prognose über die im Anklagefall zu erwartende gerichtliche Entscheidung geht (in welchen Fällen es somit zur Ausübung im Ermessen kommen muss).

Als Korrektiv für die ausschließlich in die Kompetenz der Staatsanwaltschaft fallende Verfahrenseinstellung sieht das Gesetz die gerichtliche Überprüfung dieser von einem Organ der Gerichtsbarkeit (Art 90a B-VG) getroffenen Entscheidung aufgrund eines Fortführungsantrags nach § 195 StPO vor, wobei Opferinteressen in der ebenfalls schützenswerten Position des Beschuldigten ihre Grenzen finden und die Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft nach dem klaren Willen des Gesetzgebers lediglich einer Art Missbrauchskontrolle unterworfen werden soll.

Gem § 195 Abs 1 StPO hat das Gericht auf Antrag des Opfers die Fortführung eines nach §§ 190 bis 192 StPO beendeten Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft anzuordnen, wenn das Gesetz verletzt oder unrichtig angewendet wurde (Z 1), erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der Tatsachen bestehen, die der Entscheidung über die Beendigung zu Grunde gelegt wurden (Z 2), oder neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die für sich allein oder im Zusammenhalt mit übrigen Verfahrensergebnissen geeignet erscheinen, den Sachverhalt soweit zu klären, dass nach dem 11. oder 12. Hauptstück vorgegangen werden kann (Z 3).

Gem § 195 Abs 2 dritter Satz StPO muss der Antrag oder die Äußerung (§ 196 Abs 1 StPO) die Gründe einzeln und bestimmt bezeichnen, aus denen die Verletzung oder unrichtige Anwendung des Gesetzes oder die erheblichen Bedenken abzuleiten sind. Werden neue Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht, so gilt § 55 Abs 1 StPO sinngemäß (§ 195 Abs 2 letzter Satz StPO).

Aus der geforderten deutlichen und bestimmten Bezeichnung jener Gründe, aus denen die erheblichen Bedenken abzuleiten sind (§ 195 Abs 2 dritter Satz StPO) und der entsprechenden Pflicht des Gerichts, auf das Bezeichnungserfordernis gegebenenfalls hinzuweisen (§ 196 Abs 1 zweiter Satz StPO), ist ein auf den Antrag beschränkter Prüfungsumfang abzuleiten.

Das Gericht ist demnach weder befugt, vom Fortführungswerber nicht geltend gemachte, sich aus dem Akt ergebende Argumente gegen die Einstellung zu berücksichtigen, noch ist es berechtigt, die Wirkung des stattgebenden Beschlusses amtswegig auf Taten oder Beschuldigte zu erstrecken, hinsichtlich derer eine Fortführung des Verfahrens gar nicht beantragt wurde.

Gegen eine zur Einstellung des Verfahrens führende Beurteilung der Verfahrensergebnisse in tatsächlicher Hinsicht steht ein gerichtlicher Rechtsschutz daher nur insoweit offen, als der Fortführungswerber in der Begründung seines Antrags deutlich und bestimmt aufzeigt, warum die Staatsanwaltschaft bei der Entscheidung nach §§ 190 bis 192 StPO den Rahmen pflichtgemäßen Ermessens überschritten hat, maW warum gegen deren Einschätzung, wonach eine Verurteilung aus bestimmten Tatsachen nicht nahe liege, erhebliche Bedenken bestehen.

Lediglich in einem die Erheblichkeitsschwelle erreichenden Umfang kann unter der Bedingung und nach Maßgabe deutlich und bezeichneter Beweismittel auch die Beweiswürdigung der Staatsanwaltschaft als geradezu willkürlich thematisiert werden.

Eine berechtigte qualifizierte Kritik in diesem Sinn setzt daher voraus, dass der Einstellungsentscheidung eine unerträgliche Fehlentscheidung bei der Beweiswürdigung zugrunde liegt, also im Ermittlungsverfahren gewonnene Beweismittel gravierende Bedenken gegen die Richtigkeit der Entscheidung nach §§ 190 bis 192 StPO aufkommen lassen und diese intersubjektiv - gemessen an Erfahrungs- und Vernunftsätzen - eine unrichtige Lösung der Verfahrenseinstellung qualifiziert nahe legen.

Die vom LG für Strafsachen Wien angeordnete Fortsetzung des Verfahrens lässt zunächst nicht erkennen, auf welchen Fall des § 195 Abs 1 StPO die Anordnung der Fortführung des Ermittlungsverfahrens gegründet wurde.

Weshalb das im Fortführungsantrag und in der Äußerung zur Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vorgebrachte, im angefochtenen Beschluss hervorgehobene frühe Erscheinen des W am Arbeitsplatz (mag es vom Beschuldigten auch nicht hinreichend aufgeklärt worden sein) erhebliche Bedenken iSd § 195 Abs 1 Z 2 StPO gegen die Richtigkeit jener Tatsachen erweckt, die von der Staatsanwaltschaft der Entscheidung über die Beendigung des Strafverfahrens zu Grunde gelegt wurden, wird weder im Antrag der Privatbeteiligten auf Fortführung des Strafverfahrens noch in ihrer Äußerung zur Stellungnahme der Staatsanwaltschaft aufgezeigt. Schon deswegen hätte das LG für Strafsachen Wien dem Antrag auf Fortführung nicht stattgeben dürfen.

Aber auch die Fortführungsentscheidung des LG für Strafsachen Wien selbst äußert sich zum Vorliegen der vom Gesetz geforderten qualifizierten Bedenken nicht.

Dass der Verdacht im Licht dieses Verfahrensergebnisses im Fortführungsbeschluss mit der bereits nach dem Gesetzeswortlaut unzureichenden Begründung, die Beweiswürdigung der Staatsanwaltschaft sei "bedenklich", anders als von der Staatsanwaltschaft bewertet wird, reicht indes nicht aus, um von einer geradezu willkürlichen Verfahrenseinstellung sprechen zu können. Überdies fehlt in der angefochtenen Entscheidung jegliche Auseinandersetzung mit den für den Beschuldigten sprechenden und zur Verfahrenseinstellung führenden Erwägungen der Staatsanwaltschaft, anhand derer erhebliche Bedenken aufzuzeigen gewesen wären. Damit wird lediglich eine andere Beweiswürdigung dokumentiert, die den Kriterien der vom Gesetzgeber intendierten Missbrauchskontrolle nicht gerecht wird.