18.11.2010 Strafrecht

OGH: Kompetenzabgrenzung zwischen erkennendem Gericht bzw Rechtsmittelgericht und Vollzugsgericht iZm bedingter Entlassung - Anwendbarkeit von § 265 StPO analog auf nicht rechtskräftige Strafen?

Angesichts der klaren und überschneidungsfreien Kompetenzabgrenzung zwischen erkennendem Gericht bzw Rechtsmittelgericht nach § 265 Abs 1 StPO und Vollzugsgericht nach § 16 Abs 2 Z 12 StVG besteht für eine analoge Anwendung des § 265 Abs 1 StPO keine gesetzliche Grundlage


Schlagworte: Bedingte Entlassung, Kompetenzabgrenzung, erkennendes Gericht / Rechtsmittelgericht, Vollzugsgericht Urteil, Beschluss, nicht rechtskräftige Strafen
Gesetze:

§ 265 Abs 1 StPO

GZ 15 Os 86/10a, 15.09.2010

OGH: Gem § 16 Abs 2 Z 12 StVG entscheidet das Vollzugsgericht ua über die bedingte Entlassung (aus einer Freiheitsstrafe) und die damit zusammenhängenden Anordnungen (§§ 46, 48 bis 53 und 56 StGB). Vollzugsgericht ist nach § 16 Abs 1 erster Satz StVG das in Strafsachen tätige LG, in dessen Sprengel die Freiheitsstrafe vollzogen wird. Die Zuständigkeit des Vollzugsgerichts beginnt nicht mit der Anordnung des Strafvollzugs, sondern erst mit dem tatsächlichen Strafantritt. Der Strafhaft hat wiederum die Anordnung des Vollzugs gem § 3 Abs 1 StVG vorauszugehen.

§ 265 Abs 1 erster Satz StPO überträgt die an sich dem Vollzugsgericht betreffend bereits in Vollzug gesetzter Freiheitsstrafen zustehende Befugnis zur bedingten Entlassung dem erkennenden Gericht, wenn die zeitlichen Voraussetzungen sowie die übrigen (materiellen) Bedingungen des § 46 StGB schon im Urteilszeitpunkt vorliegen. Ziel dieser Regelung ist es, durch entsprechende Verfügung des erkennenden Gerichts den - sinnlosen - Umweg zu vermeiden, dass der Verurteilte die Strafe nur deshalb antreten muss, um sogleich vom Vollzugsgericht bedingt entlassen zu werden. Der - idR gemeinsam mit dem Urteil gefasste - Beschluss entfaltet Wirksamkeit nur für den Fall der Rechtskraft des Urteils; bei Anfechtung ist der Beschluss gegenstandslos. Treten die Voraussetzungen einer bedingten Entlassung erst nach dem Urteil erster Instanz - aber noch vor dem Strafantritt - ein, so verbleibt die Zuständigkeit zur Entscheidung über die bedingte Entlassung beim erkennenden Gericht. § 265 Abs 1 zweiter Satz StPO statuiert die Kompetenz des Rechtsmittelgerichts für die bedingte Entlassung, wenn die dort genannten Voraussetzungen im Zeitpunkt der - verfahrensbeendenden - Entscheidung über die Nichtigkeitsbeschwerde oder die Berufung vorliegen.

§ 265 Abs 1 StPO ist nach seiner Konzeption eine Ausnahmeregelung, derzufolge dem erkennenden Gericht die Entscheidung über die bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 46 StGB nur für den Zeitraum ab Urteilsfällung bis zum Beginn des Strafvollzugs bzw dem Rechtsmittelgericht im Zeitpunkt seiner verfahrensbeendenden Entscheidung zukommen soll. Mit dem Vollzug der rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe, also ab dem tatsächlichen Strafantritt, hat gem §§ 16 Abs 1 erster Satz, Abs 2 Z 12 StVG ausschließlich das Vollzugsgericht über die bedingte Entlassung nach § 46 StGB zu entscheiden.

Angesichts dieser klaren und überschneidungsfreien Kompetenzabgrenzung zwischen erkennendem Gericht bzw Rechtsmittelgericht nach § 265 Abs 1 StPO und Vollzugsgericht nach § 16 Abs 2 Z 12 StVG besteht für eine analoge Anwendung des § 265 Abs 1 StPO durch das Vollzugsgericht mangels Vorliegens einer planwidrigen Lücke keine gesetzliche Grundlage. Demnach hat das LG St Pölten als Vollzugsgericht bei den Entscheidungen vom 1. Juli 2008 und 31. Juli 2008 über die bedingte Entlassung des damals noch gar nicht im Strafvollzug Befindlichen jeweils eine ihm nicht zustehende Kompetenz in Anspruch genommen und damit gegen § 16 Abs 1 und Abs 2 Z 12 StVG iVm §§ 46 StGB und 265 Abs 1 StPO verstoßen.