20.12.2011 Zivilrecht

OGH: Entziehung / Einschränkung der Obsorge iSd § 176 ABGB

Selbst dann, wenn bereits die Obsorge wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen werden musste, hat die Aufhebung einer Obsorgeübertragung an einen Dritten zu erfolgen, wenn gewährleistet ist, dass keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes besteht; dabei stehen nur solche zu erwartenden Beeinträchtigungen einer Rückführung des Kindes entgegen, die als nicht bloß vorübergehende Umstellungsschwierigkeiten zu werten sind, sondern eine konkrete, ernste Gefahr für die Entwicklung des Kindes bedeuten würden


Schlagworte: Familienrecht, Entziehung / Einschränkung der Obsorge, Kindeswohl, Aufhebung einer Obsorgeübertragung, Rückführung des Kindes, Durchbrechung des Neuerungsverbotes
Gesetze:

§ 176 ABGB, § 177 ABGB, § 144 ABGB, § 145 ABGB, § 213 ABGB, § 66 AußStrG, § 178a ABGB

GZ 3 Ob 155/11g [1], 08.11.2011

 

OGH: Maßnahmen nach § 176 Abs 1 ABGB insbesondere die gänzliche oder teilweise Entziehung der Obsorge über das Kind, setzen eine Gefährdung des Kindeswohls durch den mit der Obsorge betrauten Elternteil voraus. Es entspricht stRsp, dass eine solche Änderung der Obsorge nur angeordnet werden darf, wenn sie im Interesse des Kindes dringend geboten ist, wobei grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen ist.

 

In ebenfalls stRsp wird betont, dass aus dem Grundsatz der Familienautonomie den Familienmitgliedern die Obsorge solange gewahrt werden soll, als sich dies mit dem Kindeswohl verträgt. Die Beschränkung der Obsorge darf nur das letzte Mittel sein und nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist.

 

Eine Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger darf gem § 213 ABGB nur erfolgen, wenn sich dafür nicht Verwandte oder andere nahestehende oder sonst geeignete Personen finden lassen. Die Eltern, Großeltern und Pflegeeltern haben auch nach § 145 ABGB Vorrang vor Dritten. Der Jugendwohlfahrtsträger soll vom Gericht daher nur subsidiär mit der Obsorge betraut werden.

 

Die Konflikte in der Ehe der Eltern gehören zumindest nach dem Akteninhalt der Vergangenheit an. Die bloße Befürchtung, dass entsprechende Konflikte auch in Zukunft auftreten könnten, rechtfertigen jedenfalls nicht eine Entziehung der Obsorge.

 

Letztlich verbleibt als bestehender Unsicherheitsfaktor die Tatsache, dass die Eltern, insbesondere die Mutter, wegen ihrer unterdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten, mit der Betreuungssituation des Kindes überfordert sein könnten. Das wird vom Erstrichter mit den Erfahrungen bei den begleiteten Besuchen begründet, die zeigen, dass die Eltern etwa beim Füttern und Windelwechseln nicht besonders geschickt sind, nicht wissen, wie sie sich mit dem Kind altersgerecht beschäftigen können und „Gefahrenquellen“ (beschrieben wurde etwa ein Beispiel, dass die Eltern nicht merkten, dass neben dem Kind eine heiße Tasse Schokolade stand) nicht richtig einschätzen können. Ob der Grund für das „Betreuungsdefizit“ va beim Vater, der über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügt, nicht zumindest auch darin liegt, dass ihm niemals die Gelegenheit gegeben wurde, sich tatsächlich um den seit Geburt fremduntergebrachten J***** zu kümmern, lässt sich nach den Feststellungen des Erstgerichts nicht beurteilen.

 

Die Bedenken des Erstgerichts liegen in der Tatsache begründet, dass die väterliche Großmutter bei teilweiser Übertragung der Obsorge auf sie plant, das Kind im gemeinsamen Haushalt mit den Eltern zu betreuen. Warum das für das Kind nachteilig sein soll, lässt sich der Begründung der Vorinstanzen nicht entnehmen: Hier geht es nicht darum, dass sich die Eltern etwa lieblos oder gewalttätig zum Kind verhalten, sondern allenfalls darum, dass sie mit der konkreten Betreuungssituation überfordert sind. Warum eine Hilfestellung durch die väterliche Großmutter, sei es in der Form, dass sie den Eltern, sollte ihnen die Obsorge belassen bleiben, bei der Betreuung hilft, sei es, dass sie selbst die Obsorge im Teilbereich Pflege und Erziehung erhält, hinderlich sein soll, ist nicht ersichtlich.

 

Der Hinweis des  Jugendwohlfahrtsträgers, das Kind habe sich in der Kinderdorffamilie eingelebt, die Kinderdorfmutter sei seine Hauptbetreuungsperson, schließt eine Rückführung in das Elternhaus nicht generell aus:

 

Nach dem Akteninhalt ist es zweifellos richtig, dass es dem Kind in der Kinderdorffamilie gut geht und dass die Kinderdorfmutter seine primäre Bezugsperson ist. Wollte man aber diesen Gesichtspunkt als allein ausschlaggebend erachten, müsste in Wahrheit die Situation bei jedem Kind, das in den ersten Lebensjahren gut fremduntergebracht ist, dazu führen, es dort zu belassen. Eine Rückübertragung einer bereits entzogenen Obsorge auf die Eltern käme dann nie in Betracht. Diese Vorgangsweise allerdings widerspricht den Intentionen des Gesetzgebers und den Anforderungen, die Art 8 EMRK stellt: Selbst dann, wenn bereits die Obsorge wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen werden musste, hat die Aufhebung einer Obsorgeübertragung an einen Dritten zu erfolgen, wenn gewährleistet ist, dass keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes besteht. Dabei stehen nur solche zu erwartenden Beeinträchtigungen einer Rückführung des Kindes entgegen, die als nicht bloß vorübergehende Umstellungsschwierigkeiten zu werten sind, sondern eine konkrete, ernste Gefahr für die Entwicklung des Kindes bedeuten würden. Das hat auch für den vorliegenden Fall zu gelten, bei welchem eine Obsorgeübertragung an den Jugendwohlfahrtsträger erst im Raum steht und jedenfalls nach der bisherigen Aktenlage keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls ohne diese Obsorgeübertragung bestehen.

 

Das gem § 66 Abs 2 AußStrG im Revisionsrekursverfahren an sich geltende Neuerungsverbot ist im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls insofern durchbrochen, als der OGH aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind.

 

Eine solche wesentliche Änderung der Tatsachengrundlage (gemeinsamer Wohnsitz der Eltern mit den väterlichen Großeltern, Geburt eines weiteren Kindes, neuerliche Erkrankung der Mutter, Kooperationsbereitschaft des Vaters, positive Interaktion des Vaters mit dem Neugeborenen, gemeinsamer Haushalt des Vaters und des Neugeborenen bei den väterlichen Großeltern; Ausübung der Pflege und Erziehung durch die Großeltern mit Zustimmung der Eltern) zeigt die Revisionsrekursbeantwortung des Jugendwohlfahrtsträgers auf.