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24.10.2016 Zivilrecht

OGH: Zum Trauerschmerzengeld bei einer Totgeburt

Ein totgeborenes Kind ist jedenfalls in den letzten Wochen vor dem errechneten Geburtstermin für beide Elternteile „Angehöriger“ und Teil der „Kernfamilie“


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Arzthaftung, Schwangerschaft, ungeborenes Kind, nasciturus, Fehlgeburt, Totgeburt, Eltern, Schockschaden, Trauerschmerzengeld
Gesetze:

 

§§ 1295 ff ABGB, § 1325 ABGB, § 28 PStG

 

GZ 1 Ob 114/16w [1], 30.08.2016

 

OGH: Für den Anspruch auf Ersatz für Trauerschmerzen (mit oder ohne Krankheitswert) kommt es nicht darauf an, ob das geschädigte und deswegen seine Geburt nicht mehr er- oder überlebende Kind rechtsfähig idS ist, dass es Rechte im eigenen Namen geltend machen könnte. Vielmehr ist danach zu fragen, ob sein Tod (oder seine Verletzung) von der Rechtsgemeinschaft typischerweise als der (die) eines nahen Angehörigen iSd §§ 1293, 1325 ABGB angesehen wird, eine Verletzungs- oder Tötungshandlung also auch aus Sicht des Schädigers (wie für jedermann) in hohem Maße geeignet ist, bei den Eltern eine psychische Beeinträchtigung (auch mit Krankheitswert) auszulösen.

 

Das Bestehen einer intensiven affektiven Beziehung zwischen den werdenden Eltern und ihrem noch ungeborenen Kind kann einen Anspruch auf Trauerschmerzengeld rechtfertigen. Die werdenden Eltern knüpfen an ein erwünschtes Kind von Anfang an typischerweise freudige Erwartungen, Sehnsüchte und intensive Gefühle. Mit der Zeit, in der sich das „Kind“ ab seiner Zeugung entwickelt und heranwächst, gewinnt auch die ab Kenntnis von der Schwangerschaft vorhandene emotionale Bindung an affektiver Tiefe. Die vorzeitige Beendigung einer Schwangerschaft und das Absterben des erwünschten „Kindes“ geht typischerweise mit tiefen Verlustgefühlen einher. Für die Eltern ist gefühlsmäßig eben nicht eine „Schwangerschaft abgebrochen“ und eine „Leibesfrucht“, aber nicht ein Mensch, gestorben, sondern „ihr Kind“.

 

Dass spätestens dann, wenn das noch ungeborene Kind durch seine Bewegungen im Mutterleib - auch vom Vater - gespürt werden kann, typischerweise bei beiden Elternteilen eine auf intensiver familiärer Bindung beruhende Nahebeziehung zu ihrem „Kind“ iS eines „Angehörigen“ vorliegt, die zu vermuten ist, unterliegt bei einem erwünschten Kind keinem Zweifel. Das gilt umso mehr, wenn wie hier das ungeborene Kind schon so weit entwickelt war, dass es lebensfähig gewesen war und durch einen Kaiserschnitt oder die Einleitung der Geburt gerettet werden hätte können. Ein solcher Fall ist nicht anders zu beurteilen, als ob es bei der Geburt oder unmittelbar danach gestorben wäre. Die massive Beeinträchtigung beider Elternteile durch das Absterben eines „Kindes“ wenige Wochen vor dem errechneten Geburtstermin ist nicht nur bei der Mutter, sondern auch beim Vater eine für den Schädiger vorhersehbare Folge. Ein totgeborenes Kind ist daher jedenfalls in den letzten Wochen vor dem errechneten Geburtstermin für beide Elternteile „Angehöriger“ und Teil der „Kernfamilie“.