07.02.2012 Zivilrecht

OGH: Zulässigkeit eines Antrags auf Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer vom Jugendwohlfahrtsträger gem § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB getroffenen Maßnahme?

Es besteht kein Grund, der Mutter, die im Fall einer Maßnahme des JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB als in ihrem Grundrecht nach Art 8 EMRK Beeinträchtigte anzusehen ist, die nachfolgende Prüfung der Rechtmäßigkeit der vorläufigen Maßnahme des JWT zu verweigern


Schlagworte: Familienrecht, Entziehung / Einschränkung der Obsorge, Gefährdung des Kindeswohls, Jugendwohlfahrtsträger, Gefahr im Verzug, Interimskompetenz, Zulässigkeit eines Antrags auf Feststellung der Rechtmäßigkeit / Rechtswidrigkeit, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
Gesetze:

§ 215 ABGB, § 144 ABGB, § 176 ABGB, Art 8 EMRK

GZ 5 Ob 126/11g, 13.12.2011

 

Der JWT entzog der Mutter am 2. 7. 2010 gestützt auf § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB die gesamte Pflege und Erziehung für die mj Caroline und brachte diese in einem Krisenzentrum unter.

 

OGH: Gem § 215 Abs 1 Satz 1 ABGB hat der JWT die zur Wahrung des Wohls eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen. Bei Gefahr im Verzug kann der JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen; er hat diese Entscheidung unverzüglich, jedenfalls innerhalb von acht Tagen, zu beantragen. Im Umfang der getroffenen Maßnahmen ist der JWT vorläufig mit der Obsorge betraut.

 

Die Interimskompetenz des JWT (§ 215 Abs 1 Satz 2 ABGB) ermächtigt diesen zu Maßnahmen, die sofort mit ihrer Durchführung wirksam werden. Wird also der JWT im Rahmen seiner Interimskompetenz tätig, weil er eine Gefährdung des Kindeswohls annimmt, und beantragt er binnen acht Tagen gerichtliche Verfügungen, dann bleiben die Maßnahmen des JWT, sofern sie das Gericht nicht durch eine vorläufige Verfügung abändert oder aufhebt, bis zur Endentscheidung aufrecht. Bis dahin ist eine pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Maßnahme des JWT oder eine deckungsgleiche eigene Maßnahme des Gerichts nach § 176 ABGB nicht vorzunehmen.

 

Bereits in 2 Ob 270/04a hat der OGH ausgeführt, dass eine vom JWT im Weg einer Maßnahme nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB durchgeführte Trennung der Pflegebefohlenen von den Eltern einen Eingriff in das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) darstelle. In Fällen, in denen durch eine Maßnahme des JWT dieses Grundrecht berührt werde, habe der davon in seinen Rechten Beeinträchtigte auch noch nach Aufhebung der einschränkenden Maßnahme weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung, ob die Einschränkung zu Recht erfolgt sei. Ein derartiges Interesse stehe (aber nur) den in ihren Rechten Beeinträchtigten zu (in diesem Sinn allenfalls auch schon 2 Ob 13/04g). Diese Rechtsansicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit der Rechtmäßigkeit einer vom JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB gesetzten vorläufigen Maßnahme hat der OGH auch in der Folge in den Entscheidungen 2 Ob 177/10h und 6 Ob 1/11g im Grundsatz beibehalten; sie findet auch bei einem Teil der Lehre Zustimmung.

 

Schließlich ist auch in anderen Rechtsbereichen mit drohenden Grundrechtseingriffen die Möglichkeit einer späteren, feststellenden Klärung der Rechtmäßigkeit der grundrechtseinschränkenden Maßnahme anerkannt; dies gilt etwa für gerichtliche Entscheidungen, die in Verfahren nach dem Unterbringungsgesetz und Heimaufenthaltsgesetz ergehen und mit denen das Grundrecht des Menschen auf persönliche Freiheit (Art 5 Abs 1 lit e EMRK; Art 2 Abs 2 Z 5, 6 Abs 1 PersFrSchG) berührt wird.

 

Der zuvor dargestellten hRsp folgend besteht auch im vorliegenden Fall kein Grund, der Mutter, die im Fall einer Maßnahme des JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB als in ihrem Grundrecht nach Art 8 EMRK Beeinträchtigte anzusehen ist, die nachfolgende Prüfung der Rechtmäßigkeit der vorläufigen Maßnahme des JWT zu verweigern. Eine solche Antragstellung schließt das Gesetz nicht aus, sie harmoniert mit der Sachkompetenz des Pflegschaftsgerichts nach § 109 Abs 1 JN und sichert die Möglichkeit wirksamer Beschwerde (Art 13 EMRK).