28.02.2012 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: § 120 ASVG – zur Abgrenzung zwischen dem Vorliegen einer Krankheit und eines Gebrechens

Eine notwendige Krankenbehandlung und damit eine Krankheit in sozialversicherungsrechtlichem Sinn ist auch dann anzunehmen, wenn die Behandlung geeignet erscheint, eine Verschlechterung des Zustandsbilds hintanzuhalten; im Falle einer konkreten Gefährdung besteht bereits vor Eintritt des Versicherungsfalls der Krankheit eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung


Schlagworte: Krankenversicherung, Krankheit, Gebrechen, regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, Behandlungsbedürftigkeit, Gefährdung, Beginn der Krankheit, Vorverlegung
Gesetze:

§ 120 ASVG

GZ 10 ObS 70/11h, 08.11.2011

 

OGH: Das ASVG sieht den Versicherungsfall der Krankheit mit dem Beginn eines „regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands“ als eingetreten an, „der die Krankenbehandlung notwendig macht“ (§ 120 Z 1 ASVG). Für das Vorliegen einer Krankheit, die einen Anspruch auf Krankenbehandlung auslöst, muss nach dieser Legaldefinition zur Regelwidrigkeit die Notwendigkeit einer Krankenbehandlung (Behandlungsbedürftigkeit) treten. Die Voraussetzung der Behandlungsbedürftigkeit ist nach hA dann erfüllt, wenn der regelwidrige Zustand ohne ärztliche Hilfe nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, zumindest aber gebessert oder vor einer Verschlimmerung bewahrt werden kann oder wenn die ärztliche Behandlung erforderlich ist, um Schmerzen oder sonstige Beschwerden zu lindern. Wenn daher ein regelwidriger Körperzustand oder Geisteszustand nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft durch ärztliche Hilfe, Heilmittel oder Heilbehelfe gebessert oder vor einer Verschlimmerung bewahrt werden kann, so ist die Notwendigkeit der Krankenbehandlung indiziert. Eine notwendige Krankenbehandlung und damit eine Krankheit in sozialversicherungsrechtlichem Sinn ist somit auch dann anzunehmen, wenn die Behandlung geeignet erscheint, eine Verschlechterung des Zustandsbilds hintanzuhalten.

 

Ausschlaggebend für die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ist daher, ob ein Zustand durch Maßnahmen der Krankenbehandlung noch beeinflusst werden kann, wobei die Untergrenze in der Schmerzlinderung bzw in der Verhinderung einer Verschlimmerung des Leidenszustands liegt. Als abgeschlossene Zustände, bei denen die Leistungspflicht der Krankenversicherung nicht mehr besteht, werden lediglich Zustände qualifiziert, bei denen mit Maßnahmen der Krankenbehandlung nicht einmal mehr eine Verhinderung einer Verschlimmerung möglich ist. So können etwa im Fall eines beatmungspflichtigen querschnittgelähmten Patienten Maßnahmen der Krankenbehandlung, die eine Verschlimmerung dieses Zustands hintanhalten können, beispielsweise in der Kanülenpflege, der Dekubitusvorsorge, der Blasen- und Darmentleerung, der Verhinderung von Lungenschädigungen usw bestehen. Eine Krankenbehandlung im sozialversicherungsrechtlichen Sinn muss daher nicht die endgültige und vollständige Heilung des Patienten zum Ziel haben; es genügt vielmehr, wenn sie die Besserung des Leidens oder die Verhütung von Verschlimmerungen bezweckt.

 

Demgegenüber sind Gebrechen ihrem Wesen nach medizinisch nicht beeinflussbare, gänzliche oder teilweise Ausfälle von normalen Körperfunktionen, die im medizinischen Sinn nicht mehr als Krankheit zu beurteilen sind. Treten im Rahmen von Gebrechen allerdings „akute Störungen“ auf, so ist genau zu prüfen, ob die hinzutretenden Regelwidrigkeiten die Merkmale des sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriffs erfüllen. So werden als „akute Regelwidrigkeit“ im Rahmen von Gebrechen, somit als Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn etwa Hautreizungen und Hautabschürfungen, die an einem Amputationsstumpf beim Tragen einer infolge Bruches schadhaften Prothese auftreten, einzustufen sein.

 

Das Erfordernis der Behandlungsbedürftigkeit wird in LuRsp eher extensiv ausgelegt. Nach § 120 ASVG gilt der Versicherungsfall der Krankheit nämlich (zwar erst) mit dem Beginn der Krankheit, dh mit dem Zeitpunkt, zu dem Regelwidrigkeit und Behandlungsbedürftigkeit vorliegen, als eingetreten. Die Rsp verlegt diesen Zeitpunkt jedoch nach vorne, wenn eine medizinische Maßnahme im Einzelfall erforderlich ist, um einen schweren gesundheitlichen Nachteil abzuwenden, es somit dem Versicherten unzumutbar ist, bis zum tatsächlichen Eintritt der Krankheit zuzuwarten. Im Falle einer konkreten Gefährdung besteht daher nach Ansicht des OGH bereits vor Eintritt des Versicherungsfalls der Krankheit eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.