OGH: Zu den Aufklärungspflichten des Anlageberaters
Die Risikogeneigtheit (= Risikoklasse) einer Anlageform als Produkteigenschaft ist der Risikobereitschaft (= Risikoerwartung) des Anlegers gegenüber zu stellen, die dessen Anlageziel entsprechen muss
§§ 1295 ff ABGB, § 871 ABGB
GZ 3 Ob 214/11h, 18.01.2012
OGH: Der Umfang der Aufklärungspflichten des Anlageberaters hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab.
Zunächst ist zu prüfen, ob das vom Berater erhobene Anlegerprofil mit dem Anlageziel des Anlegers übereinstimmt.
Anlageziel der Klägerin, die mit dem Ergebnis ihrer bisherigen Sparformen (Sparbuch, Bausparverträge und Lebensversicherungen) nicht zufrieden war und diese zwecks Neuveranlagung selbständig zum großen Teil auflöste, waren andere, sichere Anlageformen mit höherem Ertrag ohne hohes Risiko, um ein Wohnbaudarlehen rasch zurückzahlen zu können und eine Absicherung für die Zeit ihrer Pension zu schaffen. Es ging ihr also primär um höhere Erträge, allerdings für unterschiedliche Zwecke, nämlich sowohl für kurzfristige Schuldentilgung als auch langfristige Zukunftsvorsorge, jedenfalls aber nur bei mittlerem Risiko.
Zur Risikobereitschaft weisen die beiden zusammen mit der Klägerin anlässlich der ersten Anlageentscheidung erstellten Anlegerprofile den unterschiedlichen Vorstellungen der Klägerin entsprechend sowohl „niedrig/konservativ, Motiv Substanzerhaltung, geringe Renditeerwartung/hohe Sicherheit“ und „gering“ (für die Zukunftsvorsorge) als auch „ausgewogen/risikobewusst, Motiv höhere Ertragserwartung, kalkuliertes Risiko mit entsprechender Streuung“ und „mittel“ (für die rasche Schuldentilgung) auf.
Damit stimmt aber das von der Erfüllungsgehilfin der Beklagten erhobene Anlegerprofil mit dem Anlageziel der Klägerin überein.
Die Risikogeneigtheit (= Risikoklasse) einer Anlageform als Produkteigenschaft ist der Risikobereitschaft (= Risikoerwartung) des Anlegers gegenüber zu stellen, die dessen Anlageziel entsprechen muss.
Es steht fest, dass es sich bei der hier allein von der Klägerin beanstandeten Anlageform (M*****-Zertifikate) - zum Zeitpunkt der Anlageentscheidung - um ein Produkt mittleren Risikos handelte. Die Klägerin hat in erster Instanz - ungeachtet des aufgenommenen Anlegerprofils - gar nicht vorgebracht, dieses würde einer mittleren Risikoerwartung nicht entsprechen; der erstmals im Rechtsmittelverfahren dazu erhobene Vorwurf stellt daher eine unbeachtliche Neuerung dar. Das gewählte Investment entsprach daher dem einen, durch kurzfristige Schuldentilgung definierten Anlageziel der Klägerin; durch die Wahl einer weiteren Anlageform mit Kapitalgarantie wurde auch das weitere, langfristige Anlageziel der Klägerin gewahrt und eine Risikostreuung erreicht.
Die Rechtsansicht, die Beklagte habe das (mittlere) Risiko der gewählten Anlageform weder verharmlost noch unrichtig beschrieben, erweist sich bei der gebotenen Würdigung des Anlegerprofils und der Äußerungen der Erfüllungsgehilfin der Beklagten in ihrer Gesamtheit keinesfalls als unvertretbar.
Ihre Behauptung, sie hätte bei Kenntnis davon, dass sie keine Aktien, sondern Zertifikate erwerbe, davon Abstand genommen, konnte die Klägerin nicht unter Beweis stellen; dem Umstand der Qualifikation der Anlageform als Aktie oder Zertifikat kommt daher keine Relevanz zu.
Der Klägerin war aber bewusst, (zum Teil) eine Anlageform zu wählen, die von der Gefahr gekennzeichnet ist, das investierte Kapital (durch Kursverluste) teilweise, aber auch zur Gänze verlieren zu können. Vor diesem Hintergrund und der (sowohl mündlichen als auch schriftlichen) Klarstellung der Erfüllungsgehilfin der Beklagten, es handle sich um ein Anlageprodukt mittleren Risikos, durfte die Klägerin die Argumentation, es sei im Vergleich zu anderen Aktien weniger riskant bzw nichts Riskantes, nur als Abgrenzung von Anlageformen mit hohem Risiko verstehen; keinesfalls durfte sie eine Auslegung dahin vornehmen, es bestehe gar kein oder nur ein geringes Risiko, weil damit die aufrecht erhaltene Einstufung als Anlageprodukt mittleren Risikos unberücksichtigt bliebe. Das gilt auch für den Hinweis, die Anlage sei sicherer als eine Veranlagung bei einer Bank, die in Konkurs gehen könne, während die Wirtschaft zusammenfallen müsse, damit die erworbenen Liegenschaften an Wert verlieren und auch dieses Produkt pleite ginge, der im Übrigen zweifelsfrei den Totalverlust des eingesetzten Kapitals im Insolvenzfall anspricht, also eine Gefahr, die sich hier gar nicht realisiert hat; die Gefahr von Kursschwankungen wurde damit aber keinesfalls als unwahrscheinlich oder wenig wahrscheinlich dargestellt und mussten deshalb von der Klägerin als mittleres Risikos (weiter) in Betracht gezogen werden.
Für einen die Haftung der Beklagten als professionelle Anlageberaterin begründenden Verschuldensvorwurf wegen Abweichung des gewählten Anlageprodukts vom Anlageziel der Klägerin bleibt daher kein Raum.