OGH: Nichtigkeitsklage gem § 529 ZPO im Außerstreitverfahren?
Der Gesetzgeber hat mit der Schaffung des Abänderungsverfahrens in den §§ 72 ff AußStrG ein eigenständiges Verfahren zur Beseitigung von mit besonders schwerwiegenden Mängeln behafteten Beschlüssen im Verfahren außer Streitsachen geschaffen und eine sinngemäße Anwendung der Bestimmungen der §§ 529 ff ZPO im Außerstreitverfahren zwar bedacht, letztlich aber bewusst nicht vorgesehen
§ 529 ZPO, § 530 ZPO, §§ 72 ff AußStrG, § 107 AußStrG
GZ 9 Ob 65/11s, 27.02.2012
OGH: Die Bestimmungen der §§ 529 ff ZPO könnten im Verfahren außer Streitsachen nur im Weg einer Analogie zur Anwendung gelangen. Die Schließung einer planwidrigen und daher ungewollten Gesetzeslücke durch Analogie ist im Verfahrensrecht im gleichen Umfang wie im materiellen Recht möglich. Erste Voraussetzung der von der Klägerin begehrten analogen Anwendung der Bestimmungen über die Nichtigkeitsklage nach der ZPO im außerstreitigen Obsorgeverfahren ist das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke.
Der OGH lehnte in stRsp die analoge Anwendung der §§ 529 ff ZPO für das AußStrG 1854 ab. Er erkannte an, dass dadurch eine Rechtsschutzlücke bestehen möge, deren Sanierung jedoch Sache des Gesetzgebers sei. Diese Rsp wurde in der Lehre nahezu einhellig kritisiert.
Die Oberste Rückstellungskommission beim OGH gelangte unter ausführlicher Auseinandersetzung mit dieser Kritik zum Ergebnis, dass eine analoge Anwendung der Bestimmungen der ZPO über das Nichtigkeits- und Wiederaufnahmeverfahren zumindest (nur, vgl 3 Ob 128/09h) in den „echten Streitsachen“ des Außerstreitverfahrens in Frage kommt. Insbesondere könne aus dem Umstand, dass dem AußStrG (alt) Regelungen über ein Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsverfahren fehlten, nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass deshalb eine analoge Anwendung der Regelungen der ZPO nicht in Frage käme. In „echten Streitsachen“, in welchen ein kontradiktorisches Verfahren nach Art des Zivilprozesses abzuführen sei und über Rechtsschutzgesuche (Sachanträge) der Parteien abgesprochen werde, sei eine planwidrige Gesetzeslücke iSe planwidrigen Unvollständigkeit anzunehmen, die durch analoge Anwendung der Bestimmungen der §§ 529 ff ZPO zu schließen sei.
Demgegenüber lehnte der OGH für das Obsorgeverfahren nach dem AußStrG 1854 eine analoge Heranziehung der Bestimmungen über die Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage mit der Begründung ab, dass es sich dabei nicht um „echte Streitsachen“ im eben dargestellten Sinn, sondern um Rechtsfürsorgeentscheidungen handle.
Im Zuge des Gesetzgebungsprozesses zum neuen AußStrG war die Gestaltung eines Nichtigkeits- bzw Wiederaufnahmsverfahrens immer Thema. Der Ministerialentwurf des BMJ für den allgemeinen Teil einer Außerstreitverfahrensordnung aus dem Jahr 1985 enthielt in seinen §§ 50 ff Bestimmungen über einen Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsantrag, nach denen die sinngemäße Anwendung der §§ 529 - 547 ZPO im Außerstreitverfahren beabsichtigt war. In einem vom Ludwig-Boltzmann-Institut erarbeiteten Alternativentwurf eines AußStrG finden sich hingegen in den §§ 73 ff detaillierte Bestimmungen zu einem Abänderungsverfahren, in dem mit Antrag die Abänderung einer Entscheidung ermöglicht werden sollte, wenn sie an einem Mangel leidet, der im Zivilprozess mit Nichtigkeitsklage geltend gemacht werden könnte oder wenn die Voraussetzungen vorliegen, die im Zivilprozess eine Wiederaufnahmsklage rechtfertigen würden.
Auch in der Lehre wurden die Möglichkeiten der Regelung eines solchen Verfahrens im neuen AußStrG erörtert, wobei auch die Unterschiede dieser beiden Entwürfe herausgearbeitet wurden. Diskutiert wurde im Schrifttum auch der Anwendungsbereich des geplanten Abänderungsverfahrens, wobei auch der Aspekt herausgearbeitet wurde, dass ein derartiger Rechtsbehelf im Pflegschaftsverfahren nicht sinnvoll sei. Knoll erachtete eine Wiederaufnahme im Obsorgeverfahren für entbehrlich, weil die Rsp zum Wohle des Kindes jede neue Entwicklung zu berücksichtigen habe. Demgegenüber sprach sich aber etwa Fucik für die Möglichkeit eines Abänderungsantrags im Obsorgeverfahren aus.
Der Gesetzgeber des AußStrG 2003 war sich der ablehnenden Haltung der Rsp gegenüber der Anwendung der Bestimmungen der §§ 529 ff ZPO im Außerstreitverfahren bewusst. Dies ergibt sich deutlich aus den Materialien zum AußStrG 2003, die auszugsweise lauten:
„Das Abänderungsverfahren entspricht der Wiederaufnahms- und Nichtigkeitsklage der Zivilprozessordnung. Die Schaffung eines solchen Rechtsinstituts wurde von der Lehre seit langem gefordert, von der Rsp wurde eine Analogie zur ZPO in diesem Bereich bis in die jüngste Zeit jedoch (von Entscheidungen der Obersten Rückstellungskommission beim OGH zwar postuliert, aber) vom OGH noch nicht gezogen. Vor allem in den 'streitigen' Materien des Außerstreitverfahrens lässt sich das Fehlen einer Möglichkeit der Wiederaufnahme kaum rechtfertigen. Wird der Anwendungsbereich des AußStrG auf bisher streitige Materien ausgedehnt, bewirkt der Entfall der bis dahin gegebenen Möglichkeit, eine Nichtigkeits- oder Wiederaufnahmsklage einzubringen, ein erhebliches Rechtsschutzdefizit. Es besteht daher grundsätzlich Bedarf an einer solchen Regelung. Der Entwurf greift auf die von der Kommission des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Rechtsvorsorge und Urkundenwesen vorgeschlagene Regelung zurück, die den Besonderheiten des Außerstreitverfahrens und dem Rechtsschutzbedürfnis der Parteien in gleicher Weise Rechnung trägt. […]
Bis zuletzt hat die Rsp die analoge Anwendung der Bestimmungen über die Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage im Verfahren Außerstreitsachen mit von der Lehre einhellig bekämpften Argumenten abgelehnt. […] Für das neue Verfahren außer Streitsachen steht es daher außer Frage, dass ein Rechtsbehelf eingeführt werden muss, der funktionell weitestgehend der Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage des streitigen Verfahrens nachgebildet ist. Statt der Bezeichnung 'Nichtigkeits- oder Wiederaufnahmeantrag' wird aber die Bezeichnung 'Abänderungsantrag' gewählt, insbesondere wegen der grundlegend anders gearteten Verfahrensgestaltung.“
Der Abänderungsantrag gem §§ 72 ff AußStrG 2003 vereint die Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage der ZPO und ist diesen Rechtsbehelfen nachgebildet. Die Abänderungsgründe des § 73 Abs 1 Z 1 und 2 AußStrG entsprechen den Nichtigkeitsklagegründen des § 529 Abs 1 Z 2 ZPO, § 73 Abs 1 Z 3 AußStrG entspricht § 529 Abs 1 Z 1 ZPO, geht aber mit dem zusätzlichen Abänderungsgrund des mit Erfolg abgelehnten Richters oder Rechtspflegers darüber hinaus. Auch die Wiederaufnahmsgründe des § 530 ZPO finden ihre Entsprechung in § 73 Abs 1 Z 4 bis 6 AußStrG. Der Ausschluss des Abänderungsantrags gem § 73 Abs 2 und 3 AußStrG entspricht ebenso weitgehend den Bestimmungen über die Unzulässigkeit der Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage in den §§ 529 Abs 2 und 3 bzw 530 Abs 2 ZPO. Wesentliche Unterschiede zwischen den Regelungen der ZPO und des AußStrG 2003 bestehen lediglich bei den das Verfahren regelnden Bestimmungen, va kennt das Abänderungsverfahren nicht die in der ZPO vorgesehene Trennung in Aufhebungs- und Erneuerungsverfahren.
Aus allen diesen Gründen folgt, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung des Abänderungsverfahrens in den §§ 72 ff AußStrG ein eigenständiges Verfahren zur Beseitigung von mit besonders schwerwiegenden Mängeln behafteten Beschlüssen im Verfahren außer Streitsachen geschaffen hat und eine sinngemäße Anwendung der Bestimmungen der §§ 529 ff ZPO im Außerstreitverfahren zwar bedacht (sogar im ursprünglichen Ministerialentwurf vorgeschlagen), letztlich aber bewusst nicht vorgesehen hat.
Die von der Klägerin gewünschte Analogie lässt sich auch nicht damit begründen, dass der Abänderungsantrag im Obsorgeverfahren gem § 107 Abs 1 Z 3 AußStrG ausgeschlossen ist. Der Gesetzgeber hat sich zum Ausschluss des Abänderungsverfahrens in verschiedenen Arten des Verfahrens außer Streitsachen und aus unterschiedlichen Gründen entschlossen (vgl §§ 90 Abs 2, 91, 139 Abs 2, 180 Abs 2 AußStrG; §§ 1 Abs 2 KEG, 225e Abs 1 AktG, 15 Abs 1 FBG oder 122 Abs 1 GBG). Für das hier zu behandelnde Obsorgeverfahren hat er den Ausschluss des Abänderungsverfahrens im Obsorgeverfahren wie folgt begründet:
„Der Gesetzgeber trägt dem Grundsatz der Kontinuität der Erziehung Rechnung. Selbst wenn die Obsorgeerstzuteilung auf einer mangelhaften Sachgrundlage ergangen sein sollte, ist der Grundsatz der Kontinuität so hoch zu bewerten, dass ein Wechsel des mit der Obsorge Betrauten nur noch bei Gefahr für das Wohl des betroffenen Kindes erfolgen soll. Bei der Entscheidung über einen Obsorgeentziehungsantrag hat das Gericht im Interesse des Wohles des betroffenen Minderjährigen ohnehin alle maßgeblichen Umstände mit zu berücksichtigen, die auf den gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt einwirken und daher die für diesen Termin zu erstellende Zukunftsprognose beeinflussen; es sind daher auch Umstände mit zu berücksichtigen, die bei einer früheren Entscheidung - auch wenn diese eine solche nach § 177 ABGB war - bewusst oder irrtümlich unberücksichtigt blieben. Somit eröffnet daher § 176 ABGB die Möglichkeit, jederzeit ein gerichtliches Verfahren einzuleiten und unter den dort normierten Voraussetzungen die bisherige Obsorgeregelung, einschließlich einer Erstzuteilung umzustoßen, ohne dass das Gericht dabei auf den Sachverhalt beschränkt wäre, der seit der letzten gerichtlichen Obsorgeregelung verwirklicht wurde. Da diese Möglichkeit weder durch Fristen (wie jene des § 74) noch durch bestimmte Anfechtungsgründe (wie jene des § 73 Abs 1) beschränkt ist, bietet das materielle Recht hier weiter gehende Abhilfemöglichkeiten als das Verfahrensrecht im Allgemeinen Teil. Die Abhilfemöglichkeiten des Abänderungsverfahrens würden zwar in den Fällen weiter reichen, in denen die Kenntnis der nova reperta zum alten Entscheidungszeitpunkt zu einer anderen Entscheidung iSd § 177 ABGB geführt hätte (wenn nämlich das Kindeswohl beim einen Elternteil, der nicht betraut wurde, besser gewahrt wäre, ohne dass beim anderen Obsorgewerber auch schon das Kindeswohl gefährdet wäre), doch können die zwischenzeitigen faktischen Obsorgeverhältnisse nun einmal nicht ausgeblendet werden, weil dadurch eine Irritation des Kindeswohls durch mehrfache Obsorgewechsel nicht ausgeschlossen wäre. In solchen Fällen können also durch die zwischenzeitigen, durch keine juristischen Eingriffe mehr rückgängig zu machenden Erziehungslagen Beurteilungsgrundlagen vorliegen, die eine Rückbeziehung auf den nach § 177 ABGB maßgeblichen Zeitpunkt des Günstigkeitsvergleichs nicht mehr gestatten. Dies mag im Ergebnis - bei bloß verfahrensrechtlicher Betrachtung - eine Einschränkung des Rechtsschutzes bedeuten, die aber aus Gründen des materiellen Kindschaftsrechts unumgänglich ist.“
Aus den Materialien ergibt sich damit unzweifelhaft, dass der Gesetzgeber die Frage einer möglichen Beeinträchtigung des Rechtsschutzes durch den Ausschluss des Abänderungsverfahrens im Obsorgeverfahren bedacht hat, sodass auch daher eine planwidrige Lücke nicht anzunehmen ist. Daran vermögen auch die weiteren Argumente der Rekurswerberin, wonach der Rechtsschutz der Nichtigkeitsklage weiter reiche als jener des Abänderungsantrags und die analoge Anwendung der Nichtigkeitsklage vom OGH auch nach Inkrafttreten des AußStrG 2003 etwa im Exekutions- oder Insolvenzverfahren bejaht worden sei, nichts zu ändern. Eine Analogie ist selbst bei Vorliegen überzeugender Sachargumente für eine Gleichbehandlung jedenfalls dann unzulässig, wenn der Gesetzeswortlaut und die Absicht des Gesetzgebers - wie hier - klar in die Gegenrichtung weisen. Allenfalls - nach Ansicht der Rekurswerberin - unbefriedigende Gesetzesbestimmungen zu ändern ist nicht Sache der Rsp, sondern des Gesetzgebers.
Es fehlt daher betreffend das hier zu beurteilende außerstreitige Obsorgeverfahren an einer planwidrigen Gesetzeslücke als Voraussetzung für die von der Rekurswerberin gewünschte analoge Anwendung des § 529 ZPO. Im Ergebnis ist das Rekursgericht daher zu Recht davon ausgegangen, dass die Einbringung einer Nichtigkeitsklage im außerstreitigen Obsorgeverfahren nicht zulässig ist.