14.05.2012 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Zu den Voraussetzungen für die Anwendung der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a ASVG

Bei „Tätigkeiten mit dem geringstem Anforderungsprofil“ iSd § 255 Abs 3a Z 4 ASVG handelt es sich einerseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (erste Fallgruppe) und andererseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen


Schlagworte: Pensionsversicherung, Invaliditätspension, ungelernte Arbeiter, Bauern, spezieller Verweisungsschutz, Härtefallregelung, Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, leichte körperliche Tätigkeiten, abstrakte Verweisung
Gesetze:

§ 255 ASVG, § 254 ASVG

GZ 10 ObS 150/11y, 14.02.2012

 

OGH: Im Recht der Pensionsversicherung gilt der Grundsatz der „abstrakten Verweisung“, wonach es für die Frage der Invalidität ohne Bedeutung ist, ob der Versicherte im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen Dienstposten finden wird. Ungelernte Arbeiter müssen sich gem § 255 Abs 3 ASVG auf alle Tätigkeiten des (allgemeinen) Arbeitsmarkts verweisen lassen, die sie aufgrund ihres Leistungskalküls noch ausüben können. Ungelernten Arbeitern gebührt somit erst dann eine Pension, wenn sie sämtliche der am allgemeinen Arbeitsmarkt angebotenen Tätigkeiten nicht (mehr) ausüben können. Dazu gehören auch leichte Tätigkeiten wie zB Botengänger, Museumswärter oder Parkgaragenkassier. Insbesondere bei schwereren gesundheitlichen Beeinträchtigungen sinken naturgemäß die Chancen, eine Beschäftigung zu erlangen oder weiterbeschäftigt zu werden. So ist mehr als die Hälfte der Invaliditätspensionswerber am Pensionsstichtag bereits längere Zeit arbeitslos oder im Krankenstand. Bei schweren Erkrankungen ist der Anteil noch höher.

 

Die Härtefallregelung des § 255 Abs 3a ASVG sieht nunmehr vor, dass auch Versicherte, die noch in der Lage sind, am allgemeinen Arbeitsmarkt Verweisungstätigkeiten, von diesen jedoch nur mehr die besonders leichten (Tätigkeiten mit dem „geringsten Anforderungsprofil“) zu verrichten, künftig als invalid (erwerbsunfähig) gelten.

 

Die Definition der „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ erfolgt in § 255 Abs 3b ASVG. Danach handelt es sich dabei um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen. Diese Tätigkeiten wurden somit nach ihrem Schweregrad, dem mit ihnen verbundenen Zeitdruck und der Körperhaltung umschrieben. Es handelt sich dabei nach den Ausführungen in der RV um leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Ziel der Härtefallregelung ist die Gewährung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit an Personen, die ein sehr stark eingeschränktes medizinisches Leistungskalkül haben. Die Definition in Abs 3b beschreibt allerdings nicht das medizinische (Rest-)Leistungskalkül von Versicherten, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Anders ausgedrückt: Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben.

 

Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil kann daher nach § 255 Abs 3b ASVG nur dann vorliegen, wenn sie leicht ist, bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden kann und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht. Die Formulierung „und/oder“ deutet auf das Vorliegen kumulativer, aber auch alternativer Anspruchsvoraussetzungen hin. Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil ist demnach eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt wird und (kumulativ) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht (erste Fallgruppe). Das Wort „oder“ für die zweite Fallgruppe ist nicht als Alternative zu leichten Tätigkeiten oder zu Tätigkeiten unter durchschnittlichem Zeitdruck, sondern als Alternative zu vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübten Tätigkeiten zu verstehen. Es könnte daher die Härtefallregelung dahin verstanden werden, dass die zweite Fallgruppe der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck ausgeübt wird und mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht, umfasst. Bei einer solchen Auslegung würde es sich aber bei den beiden Fallgruppen im Ergebnis um keinen alternativen Kreis von Anspruchsberechtigten handeln, da der Kreis der Anspruchsberechtigten nach der ersten Fallgruppe jedenfalls von der zweiten Fallgruppe umfasst wäre. Im Übrigen würde bei einer solchen Auslegung auch eine grundsätzlich im Gehen ausgeübte Tätigkeit, die von einer - mitunter auch nur mehrmals täglich einzunehmenden - stehenden Tätigkeit abgelöst wird, als Tätigkeit mit dem geringstem Anforderungsprofil anzusehen und damit bereits der Härtefallregelung zu unterstellen sein. Eine solche Tätigkeit stellt jedoch nach Ansicht des erkennenden Senats keine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil dar und es findet die gegenteilige Ansicht auch in den zitierten Gesetzesmaterialien keine Deckung.

 

Ivansits/Weissensteiner vertreten in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass folgende zwei Gruppen von „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ zu unterscheiden seien:

 

- leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (zB die Tätigkeit eines Parkgaragenkassiers).

-leichte (körperliche) Tätigkeiten, die vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals einen Haltungswechsel ermöglichen (zB Tätigkeit einer Näherin).

 

Die Alternative bei dieser Auslegungsvariante stellt somit darauf ab, ob der mehrmalige tägliche Haltungswechsel während der Ausübung der Tätigkeit möglich ist oder nicht. Für diese Auslegung findet sich im Gesetzeswortlaut des § 255 Abs 3b ASVG durch die Bezugnahme auf die ausgeübte Tätigkeit eine gewisse Stütze. Für diese Auslegung spricht aber auch der weitere Umstand, dass in den Gesetzesmaterialien in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf einen „nichtkontinuierlichen Arbeitsablauf“ Bezug genommen wird. Der erkennende Senat folgt daher auch in der Frage der Auslegung des Begriffs „Tätigkeiten mit dem geringstem Anforderungsprofil“ der Ansicht von Ivansits/Weissensteiner, wonach es sich dabei einerseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (erste Fallgruppe) und andererseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, handelt. Mit dieser Auslegung wird nach Ansicht des erkennenden Senats im Hinblick auf die vorliegende unklare Gesetzeslage der ausdrücklich erklärten Absicht des Gesetzgebers, die Härtefallregelung nur für eine sehr kleine Zahl sehr stark leistungseingeschränkter Versicherter schaffen zu wollen, sowie dem Zweck der Regelung (als „Härtefallregelung“) am ehesten Rechnung getragen.

 

Aus den dargelegten Ausführungen ergibt sich, dass das medizinische Leistungskalkül des Klägers nicht so weit eingeschränkt ist, dass er nur mehr in der Lage wäre, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten mehr auszuüben. Der Kläger ist nach den Feststellungen der Vorinstanzen nämlich jedenfalls auch noch in der Lage, Reinigungsarbeiten in Ordinationen und Büros zu verrichten. Bei dieser Verweisungstätigkeit handelt es sich um keine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil iSd § 255 Abs 3b ASVG, weil sie nicht vorwiegend in sitzender, sondern in gehender und stehender Haltung ausgeübt werden kann. Da der Kläger somit die Voraussetzungen für eine Anwendung der Härtefallregelung nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG nicht erfüllt, erübrigt sich eine Prüfung der Frage, ob er die weiteren Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 3a Z 2 und 3 ASVG erfüllt. Beim Kläger liegt somit nach der im Ergebnis zutreffenden Rechtsansicht des Berufungsgerichts auch keine Invalidität iSd § 255 Abs 3a ASVG vor.