28.05.2012 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Weitergewährung der Invaliditätspension – zur Frage, ob die Leistungsanfallvoraussetzung der Aufgabe der bisherigen Tätigkeit iSd § 86 Abs 3 Z 2 ASVG anlässlich eines Weitergewährungsantrags neuerlich zu überprüfen ist

Ist die befristet zuerkannte Invaliditätspension infolge Aufgabe der bisherigen Tätigkeit bereits angefallen, hat eine neuerliche Überprüfung dieser Leistungsanfallvoraussetzung anlässlich eines Weitergewährungsantrags zu unterbleiben


Schlagworte: Pensionsversicherung, Weitergewährung der Invaliditätspension, Aufgabe der bisherigen Tätigkeit, keine neuerliche Überprüfung
Gesetze:

§ 86 Abs 3 Z 2 ASVG, § 254 ASVG, § 255 ASVG

GZ 10 ObS 7/12w, 13.03.2012

 

Die Revisionswerberin macht geltend, die Leistungsanfallbestimmungen für die Invaliditätspension bezögen sich nur auf den erstmaligen Anfall der Leistung, nicht aber auf den Leistungszeitpunkt der einzelnen Pensionsleistungen. Eine spätere Wiederaufnahme der Tätigkeit führe nicht zum Wegfall der Leistung. Es entspreche der bisherigen Rsp, dass im Fall der Weitergewährung dauernde Invalidität bereits von Beginn an vorgelegen sei und weiter bestehe, wenn die Voraussetzungen weiterhin erfüllt seien. Die Weitergewährung sei nicht als neuerlicher „erstmaliger“ Anfall der Leistung zu qualifizieren, weshalb auch die Voraussetzungen des § 86 Abs 3 Z 2 dritter Satz ASVG nicht neuerlich erfüllt sein müssten. Die Ansicht, auch für die Weitergewährung der Invaliditätspension sei eine gesonderte Prüfung nicht nur der Anspruchsvoraussetzungen der (weiter-)bestehenden Invalidität, sondern auch des Anfalls der Leistung vorzunehmen, sei verfehlt. Wie sich aus § 254 Abs 6 ASVG über die Teilpension ergebe, entspreche es den Intentionen des Gesetzgebers, Bezieher von Invaliditätspensionen wieder ins Erwerbsleben zu integrieren. § 86 Abs 3 Z 2 dritter Satz ASVG sei zur Vermeidung von Missbräuchen ungeeignet; die Differenzierung zwischen der bisherigen versicherten Tätigkeit und anderen Tätigkeiten sei unsachlich. Durch den unsachlichen Ausschluss von der Möglichkeit des Anfalls der Invaliditätspension werde überdies das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Eigentum verletzt. Es werde angeregt, ein Normprüfungsverfahren beim VfGH einzuleiten.

 

OGH: Schon im Berufungsverfahren war nicht strittig, dass die Klägerin zu dem für die befristete Leistung maßgeblichen Stichtag (1. 6. 2009) die (materiellen und formellen) Leistungsvoraussetzungen für die begehrte Invaliditätspension erfüllte (§§ 223 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2, 254 Abs 1, 255 Abs 1 ASVG) und aufgrund ihres körperlichen Zustands Invalidität auch nach Ablauf der ursprünglichen Befristung über den 31. 7. 2010 hinaus bis zum 30. 11. 2011 weiter besteht. Somit ist ihr Anspruch auf Invaliditätspension - das Leistungsverhältnis - zum Stichtag 1. 6. 2009 entstanden (§ 85 ASVG). Das Leistungsverhältnis ist die Grundlage für die Gewährung der Leistung.

 

Soweit eine Leistung für einen bestimmten Zeitraum gebührt, wie etwa eine Pension, bedarf es noch der Festlegung, ab welchem Zeitpunkt diese Leistung zusteht. Das Gesetz bezeichnet diesen Zeitpunkt als Anfall der Leistung (§ 86 ASVG). Soweit nichts anderes bestimmt ist, fallen die sich aus den Leistungsansprüchen ergebenden Leistungen mit dem Entstehen des Anspruchs an (§ 86 Abs 1 ASVG). Gesetzliche Bestimmungen können aber dazu führen, dass der Leistungsanfall vom Zeitpunkt des Entstehens des Leistungsverhältnisses abweicht. Eine Invaliditätspension fällt mit der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen an, wenn dieser Zeitpunkt auf einen Monatsersten fällt, sonst fällt sie mit dem der Erfüllung der Voraussetzungen folgenden Monatsersten an, sofern die Pension binnen einem Monat nach Erfüllung der Voraussetzungen beantragt wird (§ 86 Abs 3 Z 2 erster Satz ASVG). Wird der Antrag auf die Pension erst nach Ablauf eines Monats nach Erfüllung der Voraussetzungen gestellt, so fällt die Pension mit dem Stichtag an (§ 86 Abs 3 Z 2 zweiter Satz ASVG).

 

Für den Anfall der Pensionen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit ist seit dem Strukturanpassungsgesetz 1996, BGBl I 1996/201 zusätzlich die Aufgabe der Tätigkeit, aufgrund welcher der (die Versicherte als invalid, (berufsunfähig, dienstunfähig) gilt, erforderlich, es sei denn der (die) Versicherte bezieht ein Pflegegeld ab Stufe 3 nach § 4 BPGG oder nach den Bestimmungen der Landespflegegeldgesetze (§ 86 Abs 3 Z 2 dritter Satz ASVG). Werden dem (der Versicherten) medizinische oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation gewährt, und sind ihm (ihr) diese Maßnahmen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner (ihrer) Ausbildung sowie der von ihm (ihr) bisher ausgeübten Tätigkeit zumutbar, so fällt die Pension aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit erst an, wenn durch die Rehabilitationsmaßnahmen die Wiedereingliederung des (der) Versicherten in das Berufsleben nicht bewirkt werden kann (§ 86 Abs 3 Z 2 vierter Satz).

 

Im vorliegenden Fall ist nur strittig, ob die für den Zeitraum 31. 7. 2010 bis 30. 11. 2011 befristet zugesprochene Invaliditätspension als angefallen iSd § 86 Abs 3 Z 2 dritter Satz ASVG anzusehen ist.

 

Nach den Gesetzesmaterialien zum Strukturanpassungsgesetz 1996 dient § 86 Abs 3 Z 2 dritter Satz ASVG der Vermeidung von Missbräuchen. Es soll verhindert werden, dass neben dem Bezug einer Pension aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit die bisherige Tätigkeit weiterhin ausgeübt wird. Die Neuregelung verfolgt somit offenbar den Zweck, Versicherte vom Leistungsbezug auszuschließen, die zwar objektiv nicht in der Lage sind, ihrer versicherten Tätigkeit nachzugehen, aber auf Kosten ihrer Gesundheit oder aus Entgegenkommen ihres Arbeitgebers ihre bisherige Berufstätigkeit fortsetzen. Die Aufgabe der Berufstätigkeit ist vom Gesetzgeber allerdings nicht als besondere Leistungsvoraussetzung (wie etwa nach der früheren Regelung des § 254 Abs 1 ASVG in der Fassung SRÄG 1991) konzipiert. Die Fortsetzung der bisherigen Berufungstätigkeit bewirkt vielmehr eine Hemmung des Leistungsanfalls. Wird die Erwerbstätigkeit aufgegeben, fällt die Leistung an. Wird sie hingegen nicht aufgegeben, ist bei Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen ein Zuerkennungsbescheid zu erlassen mit der Feststellung, dass die Pension (vorläufig) nicht anfällt. Die Aufgabe der Tätigkeit, aufgrund derer ein Versicherter als invalid gilt, ist somit nicht (mehr) Anspruchs- sondern Anfallsvoraussetzung. Die Entstehung des Anspruchs auf Invaliditätspension (die Entstehung des Leistungsverhältnisses) und der Anfall der Invaliditätspension sind gesondert zu prüfen.

 

Maßgeblich für den Anfall der Pension ist im Sozialrechtsverfahren der Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz. Zu beurteilen ist, ob der Versicherte im Zeitraum bis zum Schluss der Verhandlung erster Instanz seine Tätigkeit, aufgrund welcher er als invalid gilt, iSd § 86 Abs 3 Z 2 ASVG aufgegeben hat. Ist dies zu verneinen, ist die Invaliditätspension bis dahin nicht angefallen.

 

Eine spätere Wiederaufnahme der Tätigkeit bewirkt nicht mehr den Wegfall der Leistung, weil sich die Leistungsanfallbestimmungen nur auf den erstmaligen Anfall der Leistung, nicht aber auf den Leistungszeitpunkt der einzelnen Pensionsleistungen beziehen. Ist eine Pension somit angefallen, ist eine Überprüfung der Voraussetzungen ihres Anfalls nicht neuerlich - bezogen auf einen späteren Zeitpunkt - vorzunehmen.

 

Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach dem Anfall kann jedoch zur Umwandlung der Invaliditätspension in eine Teilpension führen (§ 254 Abs 6 ASVG). Durch die Gewährung von Teilpensionen wird sichergestellt, dass eine Geldleistung aus der Sozialversicherung, die den Zweck hat, weggefallenes Erwerbseinkommen zu ersetzen, nicht ungeschmälert neben einem über der Geringfügigkeitsgrenze liegenden Erwerbseinkommen bezogen werden kann.

 

Einen Einfluss auf den Stichtag hat die Fortführung oder Aufgabe der Erwerbstätigkeit nicht.

 

Für den Anfall maßgeblich ist die vollständige Aufgabe der bisherigen Tätigkeit, aufgrund derer der Versicherte als invalid bzw berufsunfähig gilt. Die Aufgabe dieser Tätigkeit setzt eine formale Lösung des Arbeitsverhältnisses, also eine Beendigung des Dienstverhältnisses oder die Ausübung einer anderen Erwerbstätigkeit, wenn auch im gleichen Betrieb (Änderungskündigung) - voraus. Der Bezug einer Urlaubsentschädigung oder Urlaubsabfindung (nunmehr Urlaubsersatzleistung) hindert den Leistungsanfall nicht. Einer formalen Beendigung des Dienstverhältnisses ist eine bloß faktische Nichtausübung der Tätigkeit, zB aufgrund eines längeren, ununterbrochenen Krankenstands oder Urlaubs nicht gleichzusetzen. Das bisherige Beschäftigungsverhältnis darf jedenfalls soweit nicht weiter bestehen, als es eine idente Tätigkeit zum Gegenstand hat. Auch eine geringfügige Beschäftigung mit identem Inhalt wie die aufzugebende Tätigkeit steht dem Anfall der Invaliditätspension entgegen. Die Ausübung anderer Erwerbstätigkeiten hindert den Anfall der Invaliditätspension hingegen nicht. So wurde der Standpunkt vertreten, dass bei einem Angestellten, der als Computertechniker berufsunfähig ist, die Berufsunfähigkeitspension erst ab dem Zeitpunkt anfällt, ab dem er seine Arbeitstätigkeit als Computertechniker aufgegeben hat; die Ausübung einer anderen Erwerbstätigkeit (zB als Buchhalter) hindert den Anfall der Berufsunfähigkeitspension nicht. Der Umstand, dass der Versicherte keine kalkülsüberschreitenden Tätigkeiten mehr verrichtet, seine bisherige Berufstätigkeit jedoch ansonsten fortsetzt, reicht hingegen für eine Aufgabe der Tätigkeit, welche zum Anfall der Pension führt, nicht aus.

 

Ebenfalls durch das Strukturanpassungsgesetz 1996 kam es zu einer Änderung des § 256 ASVG. Pensionen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit sind seither grundsätzlich befristet für die Dauer von längstens 24 Monaten zuzuerkennen. Besteht nach Ablauf der Frist die Invalidität bzw Berufsunfähigkeit weiter, so ist die Pension auf Antrag für jeweils längstens 24 weitere Monate zuzuerkennen. Aufgrund eines innerhalb drei Monaten nach dem Wegfall gestellten Antrags auf Weitergewährung ist das Fortbestehen der Invalidität nach Ablauf der Frist zu prüfen (§ 256 Abs 1 ASVG).

 

Aus den Gesetzesmaterialien zu § 256 ASVG ergibt sich, dass im Hinblick auf die nicht vorhersehbare Weiterentwicklung medizinischer Behandlungsmethoden sowie die Unsicherheit medizinischer Langzeitprognosen der Grundsatz der befristeten Zuerkennung von Pensionen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit den Pensionsversicherungsträgern eine flexiblere Zuerkennungspraxis bei Invaliditäts-(Berufsunfähigkeits-, Dienstunfähigkeits-)pensionen ermög-lichen solle. Durch die auf Antrag erfolgende Weitergewährung der Pension komme es bei Fortbestand der Arbeitsunfähigkeit zu keiner Verschlechterung in den Rechten des Leistungsbeziehers. In der Vergangenheit zutage getretene Schwierigkeiten beim Entzug von unbefristet zuerkannten Pensionen aufgrund des Wegfalls der Arbeitsunfähigkeit würden jedoch in Hinkunft nicht mehr auftreten.

 

Auf die vom Berufungsgericht aufgeworfene Rechtsfrage, ob die neu eingeführte Leistungsanfallvoraussetzung der Aufgabe der bisherigen Tätigkeit anlässlich eines Weitergewährungsantrags neuerlich zu überprüfen ist, wird weder in den zu § 86 Abs 3 Z 2 ASVG noch zu § 256 ASVG vorhandenen Gesetzesmaterialien direkt Bezug genommen.

 

Dagegen spricht zunächst, dass es sich bei einem Verfahren über die Weitergewährung einer befristet zuerkannten Invaliditätspension um einen letztlich einheitlichen Versicherungsfall handelt, dessen Voraussetzungen durch den für die befristete Leistung maßgeblichen Stichtag bestimmt werden. Es ist daher ausschließlich zu diesem (ursprünglichen) Stichtag festzustellen, ob Invalidität noch, erstmals oder wieder gegeben ist. Bezogen auf diesen (ursprünglichen) Stichtag ist zu beurteilen, ob Invalidität unter allen in § 255 ASVG genannten Voraussetzungen eingetreten ist. Es ist daher auch beispielsweise das Vorliegen von Berufsschutz zum ursprünglichen Stichtag zu prüfen. Andere Anspruchsvoraussetzungen wie beispielsweise die Erfüllung der Wartezeit sind nicht mehr zu prüfen. Die zum Stichtag geltende Rechtslage ist der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen zugrunde zu legen.

 

Liegt aber bei Fortbestehen der Invalidität über die Befristung hinaus ein (einheitlicher) Versicherungsfall der Invalidität vor und ist die Invaliditätspension infolge Auflösung des Dienstverhältnisses zu dem für die befristete Leistung maßgeblichen Stichtag (1. 6. 2009) angefallen, kann eine spätere Wiederaufnahme der Tätigkeit nicht mehr den Wegfall der Leistung bewirken, weil sich die Leistungsanfallbestimmungen nur auf den erstmaligen Anfall der Leistung, nicht aber auf den Leistungszeitpunkt der einzelnen Pensionsleistungen beziehen. Für diesen Rechtsstandpunkt lässt sich weiters ins Treffen führen, dass es nach den Gesetzesmaterialien durch die befristete Zuerkennung nicht zu einer Verschlechterung in den Rechten des Leistungsbeziehers kommen soll. Ist die befristet zuerkannte Invaliditätspension infolge Aufgabe der bisherigen Tätigkeit iSd § 86 Abs 3 Z 2 ASVG bereits angefallen, würde das Erfordernis einer (neuerlichen) Überprüfung dieser Leistungsanfallvoraussetzung im Weitergewährungsverfahren im Vergleich zur unbefristeten Zuerkennung aber gerade eine solche Verschlechterung in den Rechten des Leistungsbeziehers bewirken.

 

Ist die befristet zuerkannte Invaliditätspension infolge Aufgabe der bisherigen Tätigkeit bereits angefallen, hat demnach eine neuerliche Überprüfung dieser Leistungsanfallvoraussetzung anlässlich eines Weitergewährungsantrags zu unterbleiben.

 

Ausgehend von der dargelegten Rechtsansicht erweist sich die Revision der Klägerin als berechtigt, sodass auf ihre weiteren Ausführungen über verfassungsrechtliche Bedenken nicht mehr eingegangen werden muss. Da somit anlässlich eines Weitergewährungsantrags keine neuerliche Überprüfung der Leistungsanfallvoraussetzung der Aufgabe der bisherigen Tätigkeit vorzunehmen ist, war auszusprechen, dass der Klägerin die Invaliditätspension in der zuletzt zuerkannten Höhe auch über den 31. 7. 2010 hinaus bis zum 30. 11. 2011 weiterzugewähren ist. Die Höhe der Invaliditätspension ergibt sich aus dem im Anstaltsakt erliegenden Bescheid vom 10. 8. 2011 (Stk 308) mit 607,47 EUR ab 1. 8. 2010 und 614,76 EUR ab 1. 1. 2011. Gegen die Höhe dieser Pensionsleistung wurden im Verfahren keine Einwendungen erhoben.