OGH: Zur Beurteilung der Verkehrsauffassung im Lauterkeits- und Immaterialgüterrecht
Ein Sachverständigenbeweis ist ausnahmsweise aufzunehmen, wenn die Lebenserfahrung keine sichere Beurteilung der Verkehrsauffassung gestattet; die Auffasung, dass der Sachverständigenbeweis bei einem darauf gerichteten Antrag jedenfalls aufzunehmen sei, trifft nicht zu
UWG, MSchG, GMV
GZ 17 Ob 27/11m, 12.06.2012
OGH: Die Frage des Eindrucks der beteiligten Verkehrskreise ist nach stRsp eine Rechtsfrage, wenn zu ihrer Beurteilung die Erfahrungen des täglichen Lebens ausreichen; sie ist eine Tatfrage, wenn dies nicht der Fall ist. Letzteres trifft insbesondere dann zu, wenn die von besonderen Kenntnissen abhängige Auffassung von Fachkreisen zu beurteilen ist. Aber auch sonst steht es den Parteien grundsätzlich frei, Erfahrungssätze zu behaupten und unter Beweis zu stellen oder den Beweis der Unrichtigkeit der vom Gericht zugrunde gelegten Erfahrungssätze anzutreten. Dieser Beweis wird im Regelfall nur durch eine demoskopische Umfrage geführt werden können.
Eine Beweisaufnahme ist allerdings nur dann geboten, wenn im konkreten Fall Zweifel bestehen, dass die strittige Frage allein aufgrund der Lebenserfahrung der zur Entscheidung berufenen Organe beantwortet werden kann. Dabei sind die von den Gerichten heranzuziehenden Erfahrungssätze wie Rechtssätze zu behandeln; sie unterliegen daher - soweit eine erhebliche Rechtsfrage begründet ist - der Überprüfung durch den OGH. Hält dieser sie für unrichtig, kann er die Sache selbst anders beurteilen; bei Zweifeln kann er die Aufnahme von Beweisen über die Verkehrsauffassung anordnen.
Diese Grundsätze, die im Regelfall auf eine rein rechtliche Beurteilung der Verkehrsauffassung hinauslaufen, prägen - wenngleich oft ohne ausdrückliche Bezugnahme - seit langem die Praxis des österreichischen Lauterkeits- und Immaterialgüterrechts. Sie entsprechen im Kern der (primär lauterkeitsrechtlichen) Rsp des EuGH, wonach das Gericht die Irreführungsgefahr im Regelfall aufgrund eigener Sachkunde beurteilen kann; nur bei „besonderen Schwierigkeiten“ kann sich die Einholung eines Gutachtens oder die Durchführung einer Verbraucherbefragung als notwendig erweisen. Die damit verbundene Flexibilität ermöglicht ein den Erfordernissen des Einzelfalls angemessenes Verfahren; die notwendige Kontrolle der Vorinstanzen ist durch die Zuordnung zur rechtlichen Beurteilung und die damit grundsätzlich verbundene Revisibilität gewahrt. Der Senat sieht daher keinen Grund, von dieser Rsp abzugehen.
In zwei jüngeren domainrechtlichen Ent-scheidungen (17 Ob 16/10t - schladming.com; 17 Ob 15/11x - wagrain.at) lagen offenkundig Zweifel an den von den Vorinstanzen herangezogenen Erfahrungssätzen vor, weswegen der damals zuständige 17. Senat die Einholung eines demoskopischen Gutachtens für erforderlich hielt. Dies ist von der oben dargestellten Rsp gedeckt, wonach ein solcher Beweis ausnahmsweise aufzunehmen ist, wenn die Lebenserfahrung keine sichere Beurteilung der Verkehrsauffassung gestattet. Soweit den Gründen dieser Entscheidungen darüber hinaus zu entnehmen ist, dass der Sachverständigenbeweis bei einem darauf gerichteten Antrag jedenfalls aufzunehmen sei, hält der Senat dies nach erneuter Prüfung nicht aufrecht.