30.07.2012 Zivilrecht

OGH: § 140 ABGB – zur Selbsterhaltungsfähigkeit iZm weiterführender Ausbildung / Zweitausbildung

Selbst wenn der Schulabschluss in einer berufsbildenden mittleren oder höheren Lehranstalt mit der Berechtigung zur Ausübung eines Lehrberufs oder den Voraussetzungen für die Ausübung eines Gewerbes verbunden ist, tritt nicht immer sogleich die Selbsterhaltungsfähigkeit ein


Schlagworte: Familienrecht, Unterhalt, Selbsterhaltungsfähigkeit, weiterführende Ausbildung, Zweitausbildung, Anspannungsgrundsatz, Behauptungs- und Beweislast
Gesetze:

§ 140 ABGB

GZ 2 Ob 141/11s, 15.05.2012

 

Die Antragstellerin macht geltend, es fehle ihr an jeglichem Verschulden, das Voraussetzung für die Anwendung von Anspannungsgrundsätzen sei. Sie habe ihre bisherigen Ausbildungsschritte stets zielstrebig absolviert und auch die Eignungsprüfung für das Kolleg für Sozialpädagogik bestanden. Von dessen Seite habe man ihr die Absolvierung eines „freiwilligen sozialen Jahres“ nahe gelegt. Es könne ihr nicht zum Verschulden gereichen, wenn sie dieser Empfehlung gefolgt sei. Das angesprochene Kolleg in Baden, befinde sich - im Gegensatz zu jenem in Graz - nicht in unmittelbarer Nähe zum Wohnort der Antragstellerin, sodass die Wahl dieses Kollegs mit erheblichen zusätzlichen Aufwendungen verbunden gewesen wäre. Davon abgesehen hätte es keine Garantie dafür gegeben, dass die Antragstellerin in Baden (oder anderswo) aufgenommen worden wäre bzw dort ausreichend Plätze zur Verfügung gestanden wären. Der Antragsgegner habe hierzu kein Vorbringen erstattet, weshalb die Antragstellerin zu den vom Rekursgericht vermissten Behauptungen nicht veranlasst gewesen sei. Auch auf ihre frühere Ferialtätigkeit in der Gastronomie könne sie nicht verwiesen werden. Es wäre ihr nicht zumutbar gewesen, für eine Dauer von nur zehn Monaten einen die Selbsterhaltungsfähigkeit begründenden Beruf auszuüben und dafür auf die für die beabsichtigte Ausbildung jedenfalls vorteilhafte praktische Tätigkeit zu verzichten.

 

OGH: Die zu lösende Rechtsfrage des Eintritts der (hypothetischen) Selbsterhaltungsfähigkeit hängt zwar stets von den Umständen des Einzelfalls ab, die Vorinstanzen sind jedoch von der Rsp des OGH zur Behauptungs- und Beweislast in Unterhaltssachen abgewichen.

 

Ein Kind ist selbsterhaltungsfähig, wenn es die zur Deckung seines Unterhalts erforderlichen Mittel selbst erwirbt oder aufgrund zumutbarer Beschäftigung zu erwerben imstande ist. Es ist selbsterhaltungsfähig, wenn es über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt. Ein Kind verliert seinen Unterhaltsanspruch aber nicht automatisch mit dem Abschluss der Berufsausbildung, sondern nur dann, wenn es die Aufnahme einer ihm zumutbaren Erwerbstätigkeit aus Verschulden unterlässt. Findet das Kind keine seiner Berufsausbildung entsprechende Arbeitsmöglickeit wird dessen Selbsterhaltungsfähigkeit an sich verneint. Erst nach längerer Zeit vergeblicher Suche einen seiner Ausbildung adäquaten Arbeitsplatz zu erlangen, könnte das Kind auch auf „Hilfsarbeitertätigkeiten“ verwiesen werden.

 

Im Allgemeinen wird die Zumutbarkeit eigener Erwerbstätigkeit des Kindes nach Abschluss einer Berufsausbildung bejaht. Die Ablegung der Reifeprüfung allein bedeutet allerdings noch keine bestimmte Berufsausbildung, wobei es nicht darauf ankommt, ob das Kind eine allgemeinbildende höhere Schule (AHS) oder - wie hier - eine berufsbildende höhere Schule (BHS) absolvierte.

 

Selbst wenn der Schulabschluss in einer berufsbildenden mittleren oder höheren Lehranstalt mit der Berechtigung zur Ausübung eines Lehrberufs oder den Voraussetzungen für die Ausübung eines Gewerbes verbunden ist, tritt nicht immer sogleich die Selbsterhaltungsfähigkeit ein. In stRsp des OGH wird auch in solchen Fällen der Anspruch eines Kindes bejaht, die bereits erworbene berufliche Qualifikation durch eine weiterführende Berufsausbildung auf Kosten der Eltern im Rahmen deren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu ergänzen, wenn es die erforderliche Neigung und Begabung aufweist und den Abschluss einer solchen Ausbildung ernsthaft und zielstrebig verfolgt. Treffen diese Voraussetzungen zu, wird der Eintritt der Selbsterhaltungsfähigkeit solange hinausgeschoben, wie die (durchschnittliche) Dauer der weiterführenden Ausbildung beträgt.

 

Bei einer Zweitausbildung ist das Weiterbestehen des Unterhaltsanspruchs hingegen an strengere Voraussetzungen gebunden als jene, die für die Finanzierung der Erstausbildung maßgeblich sind. Demnach kann einem Kind eine zweite Berufsausbildung dann zugebilligt werden, wenn es eine ernsthafte Neigung und besondere Eignung sowie ausreichenden Fleiß für eine derartige weitere Ausbildung erkennen lässt, es dem Unterhaltsschuldner zumutbar erscheint, dafür Leistungen zu erbringen, und mit überwiegender Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass dadurch eine nicht unbedeutende Verbesserung des künftigen Fortkommens des Kindes eintreten wird. Die Bestimmungsfaktoren bilden ein bewegliches System, das eine den jeweiligen Umständen des Einzelfalls angepasste Ausmittlung der weiterbestehenden Unterhaltspflicht ermöglichen soll.

 

Auch im Bereich des weithin vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verfahrens außer Streitsachen (§ 16 Abs 1 AußStrG) sind subjektive Behauptungs- und Beweislastregeln jedenfalls dann heranzuziehen, wenn über vermögensrechtliche (also auch unterhaltsrechtliche) Ansprüche, in denen einander die Parteien in verschiedenen Rollen gegenüberstehen, zu entscheiden ist. In Detailfragen der Unterhaltsbemesung hat grundsätzlich der Unterhaltsschuldner die für seinen Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen ausreichend zu behaupten und zu beweisen, insbesondere jene Umstände, die seine Unterhaltsverpflichtung aufheben oder vermindern sollen. Dabei müssen die Tatsachen, auf die ein Antrag oder ein Gegenantrag gestützt werden soll, bereits in erster Instanz vorgebracht werden. Die Behauptungs- und Beweislast für ein zumutbarerweise erzielbares höheres Einkommen trifft nach stRsp des OGH die durch den Anspannungsgrundsatz begünstigte Partei.

 

Höhere Bundeslehranstalten für wirtschaftliche Berufe sind berufsbildende höhere Schulen iSd § 78 SchOG. Die Reifeprüfung an einer solchen Schule berechtigt nicht nur zum Besuch einer Hochschule und zum Studium an Fachhochschulen und Akademien, sondern ersetzt auch die Lehrabschlussprüfung in verschiedenen Lehrberufen.

 

Dass die von der Antragstellerin angestrebte Ausbildung zur Sozialpädagogin an einem Kolleg für Sozialpädagogik iSd obigen Ausführungen nicht als weiterführende Berufsausbildung, sondern als Zweitausbildung zu qualifizieren wäre, hat der anwaltlich vertretene Antragsgegner nicht behauptet.

 

Ebensowenig hat er eingewendet, dass der Antragstellerin ungeachtet der Empfehlung des Kollegs in Graz für die Zeit der Überbrückung ein „freiwilliges soziales Jahr“ zu absolvieren, die erfolgreiche Bewerbung an einem anderen Kolleg oder die vorübergehende Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit, „etwa in der Gastronomiebranche“ (so die Meinung des Rekursgerichts), zumutbar und möglich gewesen wäre und sie entsprechende Bemühungen aus Verschulden unterlassen hätte. Es fehlt demnach an jeglicher Behauptung des Antragsgegners zu diesen Themen und - folgerichtig - auch an jeglicher diesbezüglichen Feststellung des Erstgerichts.

 

Unter diesen Umständen haben die Vorinstanzen unter Verkennung der Behauptungs- und Beweislast des Antragsgegners zu Unrecht den Anspannungsgrundsatz angewendet und die hypothetische Selbsterhaltungsfähigkeit der Antragstellerin auf dieser Grundlage bejaht.

 

Der Antragsgegner, der sich weder am Rekurs- noch am Revisionsrekursverfahren beteiligt hat, hat in erster Instanz den für den Zeitraum ab Oktober 2010 geltend gemachten Unterhaltsanspruch ausschließlich mit der Begründung bestritten, der Antragstellerin stehe aufgrund des von ihr bezogenen Entgelts von 180 EUR, der Zuwendung des BMASK iHv 150 EUR und ihrer „sonstigen Vergünstigungen“ kein Unterhaltsanspruch mehr zu. Dem hielt die Antragstellerin ua entgegen, dass sich die Auszahlung der „Familienbeihilfe-Ersatzleistung“ mittlerweile verzögere und es vorerst auch nicht absehbar sei, ob diese Leistungen erbracht werden würden. Zum Beweis für diese Behauptung legte sie eine Urkunde vor. Auch die vom Antragsgegner angesprochenen Vergünstigungen, so die Antragstellerin weiter, könnten nicht zur Reduktion ihres Unterhaltsanspruchs führen.

 

Zu diesem wechselseitigen Vorbringen, das den Umfang der gerichtlichen Prüfung des Anspruchs festlegt, liegen noch keine ausreichenden Feststellungen vor. Es blieb insbesondere ungeklärt, wie, wo und unter welchen näheren Umständen die Antragstellerin das „freiwillige soziale Jahr“ absolvierte. Nach dem weiteren (unstrittigen) Inhalt der mit dem „Verein zur Förderung freiwilliger sozialer Dienste“ abgeschlossenen Vereinbarung vom 4. 10. 2010 kam der Antragstellerin an ihrer Einsatzstelle möglicherweise auch das Recht auf Gewährung einer Schlafstelle und der notwendigen Verpflegung zu. Demnach könnte - ähnlich einem Präsenzdiener - zumindest eine teilweise Versorgung der Antragstellerin durch Gewährung von Unterkunft und Verpflegung vorgelegen sein. Der Anspruch auf eine Förderung durch das BMASK wurde vertraglich von der Erfüllung bestimmter - bisher nicht aktenkundiger - Kriterien „laut unterzeichneter Ergänzungsvereinbarung“ abhängig gemacht. Vor Kenntnis dieser strittigen Tatumstände kann über das verbliebene Unterhaltsbegehren der Antragstellerin nicht entschieden werden.