24.09.2012 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: (Vorgezogenes) Wochengeld bei Karenzurlaub

Auch Dienstnehmerinnen, die sich in Karenzurlaub befinden und für die ein Freistellungszeugnis nach § 3 Abs 3 MSchG ausgestellt wurde, haben ab diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf ein (vorgezogenes) Wochengeld, weil diese in gleicher Weise wie eine von einem Beschäftigungsverbot betroffene beruflich aktive Dienstnehmerin nicht mehr in der Lage sind, einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen


Schlagworte: Sozialrecht, Versicherungsfall der Mutterschaft, (vorgezogenes) Wochengeld, Karenzurlaub, Freistellungszeugnis, Kinderbetreuungsgeld
Gesetze:

§ 122 Abs 3 ASVG, § 15 MSchG, § 3 MSchG, § 162 Abs 1 ASVG, KBGG

GZ 10 ObS 68/12s, 05.06.2012

 

Die Klägerin bezog aus Anlass der Geburt ihres ersten Kindes am 8. 3. 2009 im Anschluss an das Wochengeld Kinderbetreuungsgeld vom 4. 5. 2009 bis 7. 11. 2010. Sie hatte mit ihrem Dienstgeber einen Karenzurlaub bis zum 7. 3. 2011 vereinbart.

 

Die Klägerin wurde wiederum schwanger. Der voraussichtliche Entbindungstermin war der 17. 7. 2011. Die BH Amstetten bescheinigte ihr am 18. 1. 2011 ein individuelles Beschäftigungsverbot bis zum Beginn des absoluten Beschäftigungsverbots.

 

Mit Bescheid vom 18. 2. 2011 wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Auszahlung eines vorzeitigen Wochengelds ab dem 18. 1. 2011 ab.

 

OGH: Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass ausgehend vom Beginn des generellen (absoluten) Beschäftigungsverbots (§ 3 Abs 1 MSchG) der neuerliche Versicherungsfall der Mutterschaft der Klägerin innerhalb des Beginns der 32. Woche nach dem Ende der Pflichtversicherung (nach § 8 Abs 1 Z 1 lit f ASVG) liegen würde, sodass die Leistungen aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft auch zu gewähren sind, wenn der Versicherungsfall nach dem Ende der Pflichtversicherung eintritt (§ 122 Abs 3 Satz 1 ASVG).

 

Nach dem zweiten Satz des § 122 Abs 3 ASVG besteht ein Leistungsanspruch jedoch nicht, wenn die Pflichtversicherung aufgrund einer einvernehmlichen Lösung des Dienstverhältnisses, einer Kündigung durch die Dienstnehmerin, eines unberechtigten vorzeitigen Austritts oder einer verschuldeten Entlassung der Dienstnehmerin geendet hat oder wenn die Dienstnehmerin aus einem dieser Gründe unmittelbar im Anschluss an einen Zeitraum des Bezugs eines Karenzgeldes nach dem KGG ihre vorherige Beschäftigung nicht wieder aufgenommen hat. Der OGH hat bereits ausgesprochen, dass kein Fall des § 122 Abs 3 Satz 2 zweiter Fall ASVG vorliegt, wenn - wie im zu entscheidenden Fall - die Arbeitnehmerin ihren gesetzlichen Karenzurlaubsanspruch nach § 15 MSchG in Anspruch genommen hat und aus diesem Grund nach Beendigung des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld bis zum Ende dieses Karenzurlaubszeitraums die vorherige Beschäftigung (noch) nicht wieder aufgenommen hat.

 

Die Revisionswerberin vertritt weiter die Auffassung, das individuelle Beschäftigungsverbot könne bei einer in Karenz befindlichen, keine Arbeitsleistung erbringenden und daher keiner Gesundheitsgefährdung ausgesetzten Arbeitnehmerin nur theoretische Wirkung haben und rechtfertige deshalb kein Wochengeld.

 

Zu dieser fallentscheidenden Rechtsfrage liegt bereits Rsp des OGH vor (RIS-Justiz RS0127197; vgl 10 ObS 165/11d), sodass die Revision, soweit sie sich gegen den noch nicht in Rechtskraft erwachsenen Teil des Klagebegehrens richtet, unzulässig ist. Der OGH hat im Urteil vom 30. 8. 2011, 10 ObS 77/11p, mit ausführlicher Begründung dargelegt, dass aufgrund systematischer und historischer Auslegung der §§ 120 Z 3 Satz 2, 157 und 162 Abs 1 Satz 3 ASVG auch einer (in Karenzurlaub befindlichen [§ 15 MSchG]) Bezieherin einer Leistung nach dem KBGG bei Vorlage eines entsprechenden ärztlichen Freistellungszeugnisses nach § 3 Abs 3 MSchG ein vorgezogenes Wochengeld zusteht, weil sie in gleicher Weise wie eine von einem Beschäftigungsverbot betroffene erwerbstätige Dienstnehmerin nicht mehr in der Lage ist, ohne Gefährdung ihres Lebens und ihrer Gesundheit oder des Lebens und der Gesundheit ihres Kindes einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dies ergibt sich daraus, dass im Fall eines individuellen Beschäftigungsverbots in § 120 Z 3 Satz 2 ASVG eine Vorverlegung des Eintritts des Versicherungsfalls der Mutterschaft auf den Beginn des individuellen Beschäftigungsverbots normiert ist, § 157 ASVG, der den Umfang des Versicherungsschutzes bei Leistungen aus diesem Versicherungsfall regelt, den nach seinem Eintritt (§ 120 Z 3 ASVG) liegenden Zeitraum der Schwangerschaft, die Entbindung und die sich daraus ergebenden Folgen umfasst und für die Zeit des individuellen Beschäftigungsverbots § 162 Abs 1 Satz 3 ASVG einen Anspruch auf Wochengeld vorsieht. Die Revisionsausführungen geben keinen Anlass, von dieser Rechtsauffassung abzugehen, wurde doch schon auf die Argumente, wie sie die Revisionswerberin für ihre Meinung ins Treffen führt, in der Entscheidung 10 ObS 77/11p eingegangen.

 

Auch Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe beziehende Schwangere haben Anspruch auf Wochengeld, wenn die Aufnahme einer Beschäftigung mit einer Gefahr für Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind verbunden wäre. Nach § 162 Abs 1 ASVG gebührt allen weiblichen Versicherten Wochengeld, wenn sie nicht vom Anspruch ausgeschlossen sind (vgl § 162 Abs 5 ASVG). Auch aus der Formulierung des § 162 Abs 1 Satz 3 ASVG: „Über die vorstehenden Fristen vor und nach der Entbindung hinaus gebührt das Wochengeld ferner für jenen Zeitraum, während dessen Dienstnehmerinnen und Bezieherinnen einer Leistung nach dem AlVG ... bei Dienstnehmerinnen ... aufgrund eines amtsärztlichen Zeugnisses nachgewiesen wird, dass das Leben oder die Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung oder Aufnahme einer Beschäftigung gefährdet wäre“, lässt sich schließen, dass der erweiterte Wochengeldanspruch für alle weiblichen Versicherten in Betracht kommt, die grundsätzlich Anspruch auf Wochengeld haben. Es haben daher auch Schwangere, die mangels einer Beschäftigung arbeitslos sind und eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung beziehen, einen Anspruch auf Wochengeld bereits vor Beginn der (nunmehr) achten Woche vor der voraussichtlichen Entbindung, wenn die Aufnahme einer Beschäftigung mit einer Gefahr für das Leben oder die Gesundheit von Mutter oder Kind verbunden wäre und ein entsprechendes ärztliches Zeugnis darüber vorliegt.

 

In gleicher Weise haben daher auch Dienstnehmerinnen, die sich - wie die Klägerin - in Karenzurlaub befinden und für die ein Freistellungszeugnis nach § 3 Abs 3 MSchG ausgestellt wurde, ab diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf ein (vorgezogenes) Wochengeld, weil diese in gleicher Weise wie eine von einem Beschäftigungsverbot betroffene beruflich aktive Dienstnehmerin nicht mehr in der Lage sind, einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Für den Wochengeldanspruch ist daher nicht erst das tatsächliche Eingreifen eines arbeitsrechtlichen Beschäftigungsverbots maßgeblich, sondern es reicht das „potentielle Vorliegen“ einer mutterschutzrechtlichen Arbeitsunfähigkeit aus, die eine allfällige Beschäftigungsaufnahme verhindert.