OGH: Vorbeugender Unterlassungsanspruch nach § 364 Abs 2 ABGB (bei Atomkraftwerk)
Je wertvoller das (potentiell) bedrohte Rechtsgut ist, desto eher ergibt eine Interessenabwägung, dass der potenzielle Schädiger auch Handlungen zu unterlassen hat, die nur mit einiger Wahrscheinlichkeit den schädlichen Erfolg herbeiführen können; ein vorbeugender Unterlassungsanspruch wäre dann zu bejahen, wenn feststünde, dass aufgrund der Konstruktion oder des Zustands des Atomkraftwerks gegenüber Anlagen „westlichen Standards“ ein deutlich erhöhtes Risiko eines Störfalls besteht, dass die Liegenschaften der Klägerinnen in einer das ortsübliche Ausmaß übersteigenden Weise durch radioaktive Strahlung beeinträchtigen würde
§ 364 Abs 2 ABGB
GZ 3 Ob 134/12w, 19.09.2012
OGH: Regelmäßige Voraussetzung der vorbeugenden Unterlassungsklage ist der Beginn einer Rechtsverletzung. Die bloße Drohung einer Rechtsverletzung rechtfertigt die vorbeugende Unterlassungsklage nur unter besonderen Umständen, wenn nämlich ein dringendes Rechtsschutzbedürfnis des Bedrohten dies verlangt, weil das Abwarten einer Rechtsverletzung zu einer nicht wiedergutzumachenden Schädigung führen würde. Der Kläger muss in einem solchen Fall die tatsächlichen Umstände, die eine ernstlich drohende und unmittelbar bevorstehende Gefahr seiner Schädigung begründen, im Einzelnen darlegen und im Bestreitungsfall beweisen. Die bloß theoretische Möglichkeit der Schädigung genügt nicht.
Der OGH hielt einen vergleichbaren Fall eines ausländischen Atomkraftwerks betreffend fest, dass das „Rechtsschutzbedürfnis“ nach einer vorbeugenden Unterlassungsklage mit der Bedeutung des bedrohten Rechtsguts wächst, die Unmittelbarkeit der Gefährdung also teilweise durch ihr (drohendes) Ausmaß substituiert werden kann. Bei der Beurteilung der Frage, ob nach den Umständen des Einzelfalls die ernste Besorgnis einer Gefährdung vorliegt, sind deren Eintrittswahrscheinlichkeit, das Ausmaß der zu erwartenden Rechtsgutverletzung und die Bedeutung des bedrohten Rechtsguts iSe beweglichen Systems zu berücksichtigen. Je wertvoller das (potentiell) bedrohte Rechtsgut ist, desto eher ergibt eine Interessenabwägung, dass der potenzielle Schädiger auch Handlungen zu unterlassen hat, die nur mit einiger Wahrscheinlichkeit den schädlichen Erfolg herbeiführen können. Wenn bei Verwirklichung der Gefahr - etwa durch radioaktive Immissionen - eine ernste und nachhaltige Gefährdung von Leben und Gesundheit des Bedrohten zu erwarten wäre oder die ortsübliche Benützung eines Grundstücks lang andauernd erheblich beeinträchtigt würde, sind die Voraussetzungen einer Unterlassungsklage wegen Erstbegehungsgefahr nicht restriktiv zu beurteilen. Dem Bedrohten kann schon bei einem weniger hohen Grad der Wahrscheinlichkeit nicht zugemutet werden, einen Eingriff in seine Rechtssphäre abzuwarten, wenn derartig schwerwiegende und irreversible Folgen zu erwarten sind. Die bloß hypothetische Denkmöglichkeit einer Rechtsgutsverletzung ist jedoch in keinem Fall hinreichend; dies schon allein deshalb, weil auch die Einhaltung der höchstmöglichen Sicherheitsvorkehrungen bei potenziell gefährlichen Anlagen einen Unfall nicht absolut auszuschließen vermag. Ein vorbeugender Unterlassungsanspruch wäre dann zu bejahen, wenn feststünde, dass aufgrund der Konstruktion oder des Zustands des Atomkraftwerks gegenüber Anlagen „westlichen Standards“ ein deutlich erhöhtes Risiko eines Störfalls besteht, dass die Liegenschaften der Klägerinnen in einer das ortsübliche Ausmaß übersteigenden Weise durch radioaktive Strahlung beeinträchtigen würde. Bei Einhaltung hoher („westlicher“) Sicherheitsstandards bestünde aber kein Unterlassungsanspruch.
Im vorliegenden Fall steht fest, dass die beiden Reaktoren des Kernkraftwerks, auf das sich die von der klagenden Partei erhobenen Unterlassungsansprüche beziehen, am 3. November 2006 überprüft und endgültig als mit den geltenden europäischen Rechtsvorschriften übereinstimmend erklärt wurden; dies als Ergebnis eines sowohl bilateral zwischen der Republik Österreich und der Tschechischen Republik als auch auf europäischer Ebene iZm dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union abgehandelten Diskussions- und Überprüfungsprozederes. Eine iZm diesen teils ohnehin notorischen, teils aus der Begründung des Urteils des EuGH übernommenen Feststellungen gerügte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz wurde vom Berufungsgericht verneint und kann im Revisionsverfahren nicht mehr geltend gemacht werden. Es ist daher in Übereinstimmung mit der Rsp des OGH in einem vergleichbaren Fall davon auszugehen, dass die vom Atomkraftwerk Temelin ausgehende Gefährlichkeit keine unzulässige konkrete Bedrohung der Rechtsgüter der klagenden Partei darstellt, sondern iSe - niemals gänzlich zu vermeidenden - Restrisikos hingenommen werden muss.
Die von der klagenden Partei erhobenen Unterlassungsansprüche müssen daher scheitern, ohne dass die auch noch im Verfahren dritter Instanz strittig gebliebene Frage der Gleichstellung der ausländischen Betriebsanlagengenehmigung mit einer solchen nach § 364a ABGB abschließend geklärt werden müsste. Nur obiter ist dazu zu bemerken, dass vieles iSd Ausführungen in der Revisionsbeantwortung dafür spricht, dass der EuGH in seinem Urteil (C-115/08) davon ausgeht, dass wegen der „einen lückenlosen und wirksamen Gesundheitsschutz der Bevölkerung gegen die Gefahren durch ionisierende Strahlungen“ sicherstellenden Bestimmungen des EAG-Vertrags mit der Prüfkompetenz der Kommission eine ausländische Betriebsanlagengenehmigung eines Kernkraftwerks auch dann anzuerkennen ist, wenn im ausländischen Genehmigungsverfahren keine Parteistellung von Anrainern (Nachbarn) vorgesehen ist, weil der sichergestellte Gesundheitsschutz der gesamten Bevölkerung auch den Individualrechtsschutz erfasst.