OGH: Anlernqualifikation nach § 255 Abs 2 ASVG
Die Frage, ob ein angelernter Beruf vorliegt, ist keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage; Grundlage für die Lösung dieser Frage bilden Feststellungen über die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte im Einzelfall verfügt und über die Anforderungen, die an einen gelernten Arbeiter in diesem Beruf üblicherweise gestellt werden
§ 255 ASVG
GZ 10 ObS 37/12g, 05.06.2012
OGH: Nach § 255 Abs 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf iSd Abs 1 vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Ein angelernter Beruf kann aber auch dann vorliegen, wenn es keinen gleichartig gesetzlich geregelten Lehrberuf gibt, die vom Versicherten verrichtete Tätigkeit nach den für sie in Betracht kommenden Voraussetzungen im Allgemeinen jedoch eine ähnliche Summe besonderer Kenntnisse oder Fähigkeiten erfordert, wie die Tätigkeiten in einem erlernten Beruf. Bildet die Berufstätigkeit des Versicherten, die er während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausgeübt hat, einen Teil eines Lehrberufs, so ist zur Lösung der Frage des Berufsschutzes dieser Lehrberuf zum Vergleich heranzuziehen. Dabei reicht es nicht aus, wenn sich die Kenntnisse oder Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereichs beschränken, die von gelernten Arbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht werden. Denkbar ist aber auch, dass sich die Tätigkeit eines Versicherten als Mischtätigkeit von Teiltätigkeiten mehrerer Lehrberufe darstellt und der Versicherte aus jedem Lehrberuf zwar nur einzelne Teiltätigkeiten beherrscht, die Summe dieser Teiltätigkeiten jedoch ein Maß erreicht, dass die Annahme des Vorliegens von einem Lehrberuf vergleichbaren Kenntnissen und Fähigkeiten rechtfertigt. Wenngleich ein angelernter Beruf somit nicht einem gesetzlich geregelten Beruf entsprechen muss, müssen aber die qualifizierten, in der Praxis erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten an Qualität und Umfang jenen in einem Lehrberuf gleichzuhalten sein.
Es entspricht stRsp, dass die Frage, ob ein angelernter Beruf vorliegt, keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage ist. Grundlage für die Lösung dieser Frage bilden Feststellungen über die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte im Einzelfall verfügt und über die Anforderungen, die an einen gelernten Arbeiter in diesem Beruf üblicherweise gestellt werden.
Im Bereich des Bau- und Baunebengewerbes wurde etwa die Tätigkeit eines Verputzer-Facharbeiters mit Nassputz- und Trockenausbauarbeiten, die Tätigkeit eines Gerüsters, eines Schalers sowie eines Kranführers als nicht angelernte Tätigkeit iSd § 255 Abs 2 ASVG erachtet.
Der Beruf des „Eisenflechters“ ist im Berufslexikon des AMS nicht auffindbar.
Offenbar im Hinblick auf den Rechtssatz, nach dem die Tätigkeit eines Eisenbiegers keine angelernte Tätigkeit darstellt (RIS-Justiz RS0084790), erachtete das Erstgericht im vorliegenden Fall Feststellungen über Art und Umfang der aktuell von einem Eisenbieger ausgeübten Tätigkeiten sowie Feststellungen zu dessen aktueller theoretischer und praktischer Berufsausbildung als nicht erforderlich. Es finden sich auch keine Feststellungen zu den vom Kläger konkret als Eisenbieger verrichteten Tätigkeiten, noch zu den von ihm erworbenen Fähigkeiten und Kenntnissen. Das Erstgericht nahm nur allgemein auf das Berufsbild eines Bauschlossers oder eines Schmieds als artverwandten Lehrberuf Bezug und vertrat die Ansicht, dass es sich bei den Tätigkeiten eines Eisenbiegers um bloße Teiltätigkeiten dieser Berufe handle. Das Berufungsgericht führte demgegenüber aus, dass das Anfertigen und Verlegen von Bewehrungen aus Eisenteilen zur Erhöhung der Zugfestigkeit bestimmter Bauteile nur ein kleines und eingeschränktes Teilgebiet jener viel umfassenderen Kenntnisse und Fähigkeiten darstelle, die nach den gesetzlichen Ausbildungsvorschriften im Lehrberuf „Maurer“ vermittelt und nunmehr in der Praxis von Facharbeitern in der Baubranche tatsächlich verlangt werden.
Diesem Standpunkt hält der Revisionswerber in seiner Rechtsrüge entgegen, dass das aktuelle Anforderungsprofil laut der Homepage des Verbands der österreichischen Biege- und Verlegetechnik mittlerweile umfassend geworden sei und die seit der Entscheidung 10 ObS 69/92 stattgefundene rasante technische Entwicklung dazu geführt habe, dass die Anforderungen gestiegen seien und „aus einem Beruf mehrere verschiedene neue (Lehr-)berufe werden“. Das Berufsbild des Eisenbiegers umfasse neben der theoretischen Teilausbildung im Rahmen der Maurerlehre noch eine mehrjährige einschlägige praktische Ausbildung, die zum Erwerb der erforderlichen Kenntnisse der Statik und Materialkunde sowie der Fähigkeit des Verstehens und Lesens komplizierter Pläne diene. Diese erforderlichen Kenntnisse setzten sich aus Teilkenntnissen verschiedener anderer Beruf zusammen, die in ihrer Gesamtheit einen eigenen Beruf ergeben.
Im bisherigen Verfahren fehlen jegliche Feststellungen, die eine Beurteilung zulassen, ob die konkrete Tätigkeit des Klägers in ihrer Gesamtheit Kenntnisse und Fähigkeiten erforderte, die in ihrem Umfang einem Lehrberuf entsprechen. Es sind daher - bezogen auf die zum Stichtag gegebene aktuelle Situation am Arbeitsmarkt - vorerst Feststellungen zu den oben dargelegten Fragen zu treffen; weiters dazu, in welchem Umfang der Kläger über einschlägige Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt und allenfalls ob und inwieweit diese hinter den in der Praxis verlangten Kenntnissen und Fähigkeiten zurückbleiben. Ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, ist nämlich in allen Fällen, in denen ausgehend vom Bestehen eines solchen die Verweisbarkeit in Frage steht, unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Der Kläger hat bereits mit seinem in erster Instanz erstatteten Vorbringen ausreichend deutlich geltend gemacht, dass seinem Rechtsstandpunkt nach die Tätigkeit als Eisenbieger nicht bloß eine Teiltätigkeit eines Lehrberufs sei, sondern dieses Berufsbild darüber hinausgehende Kenntnisse und Fähigkeiten erfordere und er über diese Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge, sodass er einen erlernten (angelernten) Beruf iSd § 255 Abs 2 ASVG ausgeübt hat. Wenn - wie hier - nach dem Inhalt des Vorbringens über die Frage des Berufsschutzes keine Klarheit besteht und nach der Aktenlage nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden kann, dass der Versicherte als einfacher Hilfsarbeiter tätig war, hat das Gericht aufgrund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG diese Frage von Amts wegen zu prüfen und hierüber Feststellungen zu treffen.
Die Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen erweist sich daher als unumgänglich.
Dem Revisionsvorbringen, Eisenbieger seien in der Lohntafel des Kollektivvertrags für die Bauindustrie und das Baugewerbe in die Beschäftigungsgruppe IIIc eingereiht und würden dort als „angelernte Bauarbeiter“ genannt, die „für besondere Arbeiten qualifizierte Arbeiter“ seien, kann aber schon jetzt entgegengehalten werden, dass die kollektivvertragliche Einreihung als Facharbeiter für die Beurteilung, ob ein angelernter Beruf vorliegt, nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist.