VwGH: Wiederaufnahme eines Beschwerdeverfahrens vor dem VwGH und Unionsrecht
Ein nach Ablauf der dreijährigen Frist des § 45 Abs 2 VwGG gestellter Antrag führt auch dann nicht zur Wiederaufnahme, wenn der VwGH von einer in der Folge vom EuGH nicht geteilten Interpretation des Unionsrechtes ausging; das Unionsrecht verpflichtet ein nationales Gericht nicht, von der Anwendung von Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts abzusehen und eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, wenn es sich erweist, dass durch diese Entscheidung das Unionsrecht verletzt wurde
§ 45 VwGG, § 69 AVG
GZ 2012/17/0465, 21.12.2012
VwGH: Zunächst ergibt sich aus den vorliegenden Akten des VwGH, dass die beiden, das jeweilige Verfahren beendenden Erkenntnisses des VwGH dem Bf (Antragsteller) jeweils am 25. Oktober 2007 zugestellt wurden. Damit erweisen sich die vorliegenden Anträge auf Wiederaufnahme im Hinblick auf die Dreijahresfrist des § 45 Abs 2 VwGG als verspätet und waren daher zurückzuweisen.
Der Bf (Antragsteller) beruft sich betreffend seine Anträge auf Wiederaufnahme (zumindest auch) auf Unionsrecht. Aber auch dieses gebietet - entgegen dem vom Bf vertretenen Standpunkt - keine andere Beurteilung. Der EuGH hat in einer Reihe von Entscheidungen die Bedeutung der Rechtskraft betont. Entsprechend dem Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt das Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) nicht, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder durch Erschöpfung des Rechtsweges bestandskräftig geworden ist (vgl das Urteil des EuGH vom 13. Januar 2004, Rs C-453/00 Kühne & Heitz). Der Gerichtshof hat jedoch anerkannt, dass in bestimmten Fällen eine Schranke für diesen Grundsatz bestehen kann. Im erwähnten Urteil Kühne & Heitz hat er entschieden, dass die für den Erlass einer Verwaltungsentscheidung zuständige Behörde nach dem in Art 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet ist, ihre Entscheidung jedenfalls dann zu überprüfen und eventuell zurückzunehmen, wenn vier Voraussetzungen erfüllt sind:
1. die Behörde ist nach nationalem Recht befugt, diese Entscheidung zurückzunehmen,
2. die Entscheidung ist infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichtsbestands rechtskräftig geworden,
3. das Urteil beruht, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Art 234 Abs 3 EG erfüllt war,
4. der Betroffene hat sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofes erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt.
Der EuGH hat in einer Reihe von weiteren Entscheidungen die Bedeutung der Rechtskraft betont. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nach Ausschöpfung des Rechtsweges und nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfrist unanfechtbar gewordene Entscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden. Nach dem Urteil vom 16. März 2006 in der Rechtssache C-234/04, Kapferer, verpflichtet das Unionsrecht ein nationales Gericht nicht, von der Anwendung von Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts abzusehen und eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, wenn es sich erweist, dass durch diese Entscheidung das Unionsrecht verletzt wurde.
Auch im Schrifttum wird betont, dass der EuGH den hohen Rang des Instituts der Rechtskraft bestätigt und ihr für die konkret zu entscheidende Fallgestaltung den Vorrang gegenüber der Unionsrechtskonformität nationaler Gerichtsentscheidungen zumisst. Er habe überdies außer Zweifel gestellt, dass eine unionsrechtliche Verpflichtung der nationalen Gerichte und Behörden zur Durchbrechung der Rechtskraft gerichtlicher wie auch der Bestandskraft verwaltungsbehördlicher Entscheidungen von einer ausdrücklichen Regelung in der nationalen Rechtsordnung abhängig sei.
Aus den dargelegten Erwägungen war daher den Anträgen auf Wiederaufnahme der verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht stattzugeben.