OGH: Kann sich der verbotswidrig einen Radfahrstreifen benützende Motorradfahrer auf den Vorrang berufen?
Der allgemein gültige Grundsatz, wonach der Vorrang auch dann nicht verloren geht, wenn sich der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig verhält, wird in besonders krassen Fällen der Verkehrswidrigkeit durchbrochen
§§ 1295 ff ABGB, § 19 StVO, § 8 StVO
GZ 2 Ob 94/09a, 15.10.2009
Die Beklagte beabsichtigte mit ihrem KFZ an der Kreuzung nach links einzubiegen. Der Lenker eines auf der Gegenfahrbahn fahrenden Kastenwagens brachte sein Fahrzeug zum Stillstand, um der Beklagten das Linksabbiegen zu ermöglichen. Diese fuhr zügig in die Kreuzung ein und stieß mit dem Motorrad des Klägers - er befuhr einen Radfahrstreifen in gleicher Richtung wie auch der Kastenwagen - zusammen. Dem Kläger war wegen der Größe des angehaltenen Kastenwagens die Sicht auf das Beklagtenfahrzeug verdeckt.
OGH: Die Rechtsprechung hat allgemein den Grundsatz entwickelt, dass sich der Vorrang auf die ganze Fahrbahn der bevorrangten Straße bezieht und er auch dann nicht verloren geht, wenn sich der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig verhält. Dieser Grundsatz soll jedenfalls dann seine Richtigkeit haben, wenn der bevorrangte Verkehr vom wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer wahrgenommen oder schuldhaft nicht wahrgenommen wird sowie wenn mit einem Verkehr auf der bevorrangten Straße gerechnet werden muss.
Allerdings gilt der Grundsatz nicht uneingeschränkt. Wenn etwa ein einbiegender und an sich benachrangter Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen kann, dass der in einer Kolonne fahrende bevorrangte Kfz-Lenker ein vor ihm abbiegendes und deshalb langsamer werdendes Fahrzeug nicht unter Überfahren einer Sperrlinie und einer daran anschließenden Sperrfläche überholen wird, so kann sich der dennoch überholende Kfz-Lenker nicht auf seinen Vorrang berufen. Ebenso kann der Lenker eines Fahrzeugs, das aus einer Straße mit allgemeinem Fahrverbot kommt, für sich keinen Vorrang in Anspruch nehmen, sondern er muss damit rechnen, dass die Lenker anderer Fahrzeuge darauf vertrauen, dass aus dieser Straße kein Fahrzeug kommt. Dasselbe gilt für den Lenker eines Fahrzeugs, der eine Einbahnstraße entgegen der zulässigen Richtung befährt, sowie für Fahrzeuglenker, die als Radfahrer entgegen § 68 Abs 1 StVO einen Gehsteig in Längsrichtung befahren, oder entgegen § 8 Abs 2 Satz 1 StVO an einer Schutzinsel nicht rechts, sondern links vorbei- und dadurch eine "Verbindungsstraße" in der "falschen" Richtung befahren, bzw auf einer Nebenfahrbahn gegen die nach § 8 Abs 1 letzter Satz StVO zulässige Fahrtrichtung fahren.
Der erkennende Senat judizierte, dass im Falle eines Zusammenstoßes zwischen einem PKW-Lenker, der unbefugt eine Busspur benützte, um an einer stehenden Fahrzeugkolonne vorbeizufahren, und einem entgegenkommenden links abbiegenden PKW, der wegen der stehenden Kolonne keine ausreichende Sicht auf die Busspur hatte und der daher nicht in einem Zug hätte abbiegen dürfen, (im Hinblick auf die im unbefugten Befahren der Busspur liegende krasse Verkehrswidrigkeit) eine Verschuldensteilung von 1:1 angemessen sei. Ebenso entschied der Senat im Falle einer Kollision zwischen einem Motorradfahrer, der eine Kreuzung - aus dem Rechtsabbiegestreifen - in gerader Richtung überfuhr, und einem entgegenkommenden PKW, der nach links abbog, ohne auf den entgegenkommenden Geradeausverkehr zu achten, sowie bei Kollision zwischen einem die Vorrangstraße befahrenden, aber das Anhaltegebot bei einer Eisenbahnkreuzung verletzenden Fahrzeugs und einem aus einer benachrangten Querstraße einbiegenden PKW.
Zum selben Ergebnis (einer Teilung im Verhältnis von 1:1) kommt der Senat nach Abwägung der beiden Seiten vorwerfbaren Verkehrswidrigkeiten auch im vorliegenden Fall. Dem steht auch nicht der Grundsatz entgegen, dass das jeweilige Fahrverhalten nur unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrslage zu beurteilen ist. Hier hätte nämlich die konkrete Verkehrslage - (durch den angehaltenen Kastenwagen bedingte) eingeschränkte Sicht auf die den in Gegenrichtung verlaufenden Mehrzweckstreifen befahrenden Fahrzeuge - für die Erstbeklagte die Verpflichtung mit sich gebracht, ihre Geschwindigkeit bis zu einem "Vortasten" herabzumindern, um den Vorrang eines solchen Fahrzeugs wahren zu können.