03.06.2010 Zivilrecht

OGH: AHG und rechtmäßiges Alternativverhalten

Bei Verletzung "bloßer" Verfahrensvorschriften wird idR der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens zuzulassen sein; die Verletzung grundlegender Verfahrensvorschriften, die insbesondere das rechtliche Gehör betreffen, kann hingegen ein anderes Ergebnis rechtfertigen


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Amtshaftung, rechtmäßiges Alternativverhalten
Gesetze:

§§ 1295 ff ABGB, § 1 AHG

GZ 1 Ob 12/10m, 09.03.2010

OGH: Die Judikatur hat den Grundsatz geprägt, dass dem Beklagten der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens im Amtshaftungsprozess verwehrt ist, wenn die übertretene Verhaltensnorm von ihrem Schutzzweck her jedes andere Organverhalten ausschließen will und deshalb Eingriffe in fremdes Rechtsgut an eine bestimmte Form (ein bestimmtes Verhalten) binden will. Ob einer Schutznorm diese Anordnung entnommen werden kann, ist im jeweiligen Einzelfall durch Auslegung des Zwecks der verletzten Schutznorm zu ermitteln, was naturgemäß eine gewisse Kasuistik mit sich bringt. Eine eindeutige Abgrenzung nimmt die höchstgerichtliche Judikatur bei einer vom VfGH oder vom EGMR festgestellten Verletzung des verfassungsmäßig gewährleisteten Rechts auf persönliche Freiheit vor: In diesen Fällen ist der Einwand, die Haft wäre auch bei einem rechtmäßigen Verhalten der Organe verhängt worden, nicht zulässig. Hingegen werden andere Fälle verletzter Verfahrensvorschriften in Lehre und Judikatur differenziert beurteilt. Schragel sowie Koziol stellen im Wesentlichen übereinstimmend auf das Gewicht der verletzten Verfahrensvorschrift im Verhältnis zum Erfolg ab: Es ist demnach zu differenzieren, ob ein dem Schutz des Geschädigten dienendes besonderes Verfahren überhaupt nicht eingehalten oder nur Zuständigkeitsvorschriften verletzt oder Formfehler begangen wurden. Diese Abgrenzung findet sich ebenso in der Judikatur des OGH (1 Ob 42/90 mit zahlreichen Nachweisen auch zu deutscher Literatur und Judikatur: Reduktion des rechtswidrigen Organverhaltens auf die bloße Missachtung von Zuständigkeitsnormen ohne Einfluss auf das Ergebnis; 1 Ob 26/08t: Bezeichnung eines Einzelunternehmens als Bescheidadressat anstelle des Inhabers, dem der Bescheid zukam und der sich auch als Adressat sah). Diese Fälle, in denen der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens zugelassen wurde, lassen sich in die Kategorie Verletzung "bloßer" Verfahrensvorschriften einordnen. Die Verletzung grundlegender Verfahrensvorschriften, die insbesondere das rechtliche Gehör betrafen, kann hingegen ein anderes Ergebnis rechtfertigen. So erkannte der OGH in 9 ObA 2008/96a, dass eine vom Dienstgeber ausgesprochene Versetzung mangels vorheriger Verständigung der Personalvertretung unwirksam war. Die Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten wurde in diesem Fall abgelehnt, weil der Gesetzgeber den Eingriff in eine Rechtsposition von der Einhaltung eines bestimmten Verfahrens abhängig mache.

Eine vergleichbare Konstellation ist hier gegeben. Nach § 125 Abs 1 GewO muss bei Erlassung von Verordnungen über die Höchsttarife für Rauchfangkehrerleistungen auf die Leistungsfähigkeit der Betriebe und auf die Interessen der Leistungsempfänger Bedacht genommen werden. Die in Abs 2 leg cit ausdrücklich vorgeschriebene Anhörung bestimmter Interessenvertretungen verfolgt eindeutig den Zweck, den Ausgleich der Interessen von Unternehmern einerseits und Konsumenten andererseits zu garantieren. Würde trotz Verletzung eines derartigen Anhörungsrechts und ohne Durchführung eines nachvollziehbaren Ermittlungsverfahrens, das einen wesentlichen Parameter für die Ermittlung von Höchsttarifen darstellt, der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens zugelassen, bedeutete das im Endergebnis nichts anderes, als die Vorgangsweise eines Verordnungsgebers zu billigen, der eindeutige gesetzliche Vorgaben bei Erlassung einer Verordnung außer Acht lässt und damit den Verordnungsgebungsprozess (aus welchen Motiven auch immer) verkürzt. Aus diesen Erwägungen ist der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens, der mit der Einhaltung des gesetzmäßigen Verfahrens bei Erlassung der Nachfolgeverordnung begründet wird, abzulehnen. Unberücksichtigt lassen die Rekurswerber außerdem die rechtswidrig angeordnete Rückwirkung, auch wenn diese nur einen kurzen Zeitraum von ca 2 Wochen betrifft. Eine bei Einhaltung des gesetzmäßigen Verfahrens (Anhörung der zuständigen Innung und Ermittlung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit) vorgenommene Tarifänderung wäre jedenfalls für den Zeitraum vom 1. 7. 2005 bis zum rechtmäßigen Inkrafttreten der Verordnung unzulässig geblieben. Daran hätte das behauptete rechtmäßige Alternativverhalten nichts geändert.