18.11.2010 Zivilrecht

OGH: Ist von behördlich genehmigten Anlagen iSd § 364a ABGB und der sich daraus ergebenden Duldungspflicht nur dann auszugehen, wenn dem Nachbarn im behördlichen Genehmigungsverfahren(hier: Verfahren nach dem LFG) Parteistellung zugekommen ist?

Ob in die privaten Rechte nach § 364 ABGB tatsächlich eingegriffen werden soll, kann nur aus der gemeinsamen Interpretation der verwaltungsrechtlichen Bestimmungen iVm § 364a ABGB abgeleitet werden; ob in diesem Verwaltungsverfahren nur die öffentlich-rechtlichen Interessen beurteilt werden sollen oder auch die privaten Rechte der Anrainer, ergibt sich daraus, ob diese in dem Verwaltungsverfahren Parteistellung (§ 8 AVG) haben; nur im letzteren Fall ist davon auszugehen, dass es sich auch um eine "genehmigte Anlage" aufgrund einer "behördlichen Verhandlung" iSd für den Individualrechtsschutz maßgeblichen Bestimmung des § 364a ABGB handelt; andernfalls bleibt es - jedenfalls wenn keine Betriebspflicht besteht, die diese Beeinträchtigungen zwingend bedingt - bei der Prüfung der "Ortsüblichkeit" nach § 364 ABGB und der Möglichkeit der Untersagung


Schlagworte: Nachbarrecht, Immissionen, behördlich genehmigte Anlage, Verwaltungsverfahren, Parteistellung
Gesetze:

§ 364 ABGB, § 364a ABGB, § 8 AVG

GZ 8 Ob 128/09w, 22.09.2010

Der Kläger ist Hälfteigentümer einer Liegenschaft im Bauland-Wohngebiet in der Nähe eines Schigebiets. Getrennt durch eine ebene Wiese befindet sich im gleichen Ort auf der Liegenschaft der beklagten S - das Sanatorium wurde 1995 errichtet - ein Hubschrauberlandeplatz. Abgesehen von den Geräuschen des Hubschraubers ist die nicht abgeschirmte Landesstraße die bestimmende Geräuschquelle auf der Liegenschaft des Klägers.

Der Kläger begehrt Schmerzengeld sowie die Unterlassung, auf dem Grundstück der Beklagten Hubschrauber in Betrieb zu nehmen, von dort wegzufliegen oder zu landen, soweit dadurch die Lärmimmission 50 dB überschreite. Er stützt dies zusammengefasst darauf, dass durch den Hubschrauberbetrieb die Grenzwerte für den Gesundheitsschutz und die zulässigen Flugbewegungen überschritten werden. Diese Lärmbelästigung habe zu gravierenden Gesundheitsschädigungen beim Kläger geführt. Auf § 364a ABGB könne sich die Beklagte nicht berufen, da der Kläger im luftbehördlichen Genehmigungsverfahren keine Parteistellung gehabt habe.

OGH: Unter dem Aspekt des § 364 ABGB ist zwischen dem durch die Legalservitut des § 2 LFG abgedeckten Überfliegen von "Luftfahrtzeugen und Luftfahrtgeräten" und der davon ausgehenden Lärmentwicklung sowie den Immissionen, die durch das Starten und Landen auf einem bestimmten Flugplatz entstehen, zu unterscheiden. Letztere sind dort, wo damit für nahe gelegene Grundstücke ein qualitativer Unterschied zu den durch das zulässige Überfliegen entstehenden Belastungen verbunden ist, nicht durch die Legalservitut des § 2 LFG abgedeckt.

Zur Berücksichtigung der ohne Beteiligung des Klägers erteilten luftfahrtrechtlichen Bewilligung des Flugplatzes als "genehmigte Anlage" iSd § 364a ABGB ist unter dem Aspekt des verfassungs- und europarechtlichen Grundrechtsschutzes vorweg auf den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung zu verweisen.

Die Bestimmungen der §§ 364 und 364a ABGB sind daher iVm den Verwaltungsbestimmungen zu interpretieren.

Wenn der Gesetzgeber ein allgemeines Recht (§ 364 ABGB) ausformt und im Rahmen von Verfahren nach individualisierten Kriterien (§ 364a iVm Verwaltungsverfahren) Eingriffe zulässt, so bedarf dies zufolge Art 6 EMRK der Möglichkeit der Überprüfung und Beteiligung an diesen Verfahren durch die betroffenen Inhaber der Rechte.

Das öffentliche Interesse am Umweltschutz und die privaten Rechte der Anrainer (§ 364 ABGB) stellen unterscheidbare Aspekte dar. Die Prüfung dieser Aspekte kann gemeinsam in einem (Verwaltungs-)Verfahren erfolgen, oder getrennt in verschiedenen Verfahren (Gericht und Verwaltungsbehörde).

Ob in die privaten Rechte nach § 364 ABGB tatsächlich eingegriffen werden soll, kann nur aus der gemeinsamen Interpretation der verwaltungsrechtlichen Bestimmungen iVm § 364a ABGB abgeleitet werden. Ob in diesem Verwaltungsverfahren nur die öffentlich-rechtlichen Interessen beurteilt werden sollen oder auch die privaten Rechte der Anrainer, ergibt sich daraus, ob diese in dem Verwaltungsverfahren Parteistellung (§ 8 AVG) haben. Nur im letzteren Fall ist davon auszugehen, dass es sich auch um eine "genehmigte Anlage" aufgrund einer "behördlichen Verhandlung" iSd für den Individualrechtsschutz maßgeblichen Bestimmung des § 364a ABGB handelt. Andernfalls bleibt es - jedenfalls wenn keine Betriebspflicht besteht, die diese Beeinträchtigungen zwingend bedingt - bei der Prüfung der "Ortsüblichkeit" nach § 364 ABGB und der Möglichkeit der Untersagung.

Eine verwaltungsbehördliche Genehmigung kann aber - je nach dem geprüften Inhalt des Verwaltungsverfahrens - ein Indiz für die "Ortsüblichkeit" iSd § 364 ABGB insoweit sein, als ja auch vom gestörten Nachbarn eine gewisse Bedachtnahme auf - allgemeine - Interessen erwartet wird, wenn auch der "Störer" alle zumutbaren Maßnahmen setzt, um die Belastung für die gestörten Anrainer möglichst gering zu halten. Insoweit kann die "Ortsüblichkeit" nicht nur statisch verstanden werden, sondern unter Berücksichtigung des bereits angelegten Entwicklungspotentials. Für die Bestimmung dieses noch unter der Schwelle der "Eigentumsbeschränkung" anzusetzenden öffentlichen Entwicklungspotentials der "Ortsüblichkeit" sind Kriterien wie Dauer und Intensität der Einschränkung im Hinblick auf die bisherige Nutzung, die Vorhersehbarkeit, das bloße Erfassen einzelner oder kleiner Gruppen und die Frage einer prinzipiellen Änderung oder weitgehenden Reduzierung der mit dem Eigentum verbundenen Ausübungsbefugnisse als geeignet anzusehen.

Wenn in einem Schigebiet in der Nähe eines Sanatoriums eine Änderung des Charakters des Ortsbereichs unter dem Aspekt des Lärmschutzes eintritt, dies aber durch zum Schutz höherwertiger Güter wie des Lebens und der Gesundheit erforderliche Rettungsflüge erfolgt, so kann dies als erwartbare Entwicklung noch als "ortsüblich" iSd § 364 ABGB angesehen werden, wenna. die Grenzen der Bewilligung und deren Auflagen nicht überschritten werden,b. damit keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen für die Anrainer entstehen,c. nur die Rettungsflüge im tatsächlich aus gesundheitlichen Gründen erforderlichen Ausmaß durchgeführt werden undd. der Betreiber alle Maßnahmen trifft, um die Lärmbelastung für die Anrainer möglichst gering zu halten.