17.03.2011 Zivilrecht

OGH: § 94 ABGB - zur Unterhaltsbemessung (Prozentkomponente, untypische Begleitumstände, Kinderbetreuungskosten, Untersuchungshaft, Wohnung, Krankenversicherung)

Die Unterhaltsbemessung nach der Prozentkomponente bietet zwar für durchschnittliche Verhältnisse eine brauchbare Handhabe, bei atypischer Sachlage ist jedoch eine Anpassung an die tatsächlichen Verhältnisse erforderlich; befindet sich der Unterhaltsberechtigte in Untersuchungshaft, hat in diesem Zeitraum die in jedem Geldunterhaltsanspruch enthaltene Wohnkostenkomponente jedenfalls zu entfallen; weitgehend gilt dies auch für die Verpflegungskosten; ein notdürftiges Wohnen in einem Zelt auf einem unbebauten Grundstück des Unterhaltsverpflichteten kann keine Minderung des Unterhaltsanspruchs wegen teilweiser Bedarfsdeckung begründen


Schlagworte: Familienrecht, Unterhalt, Bemessung, untypische Begleitumstände, Kinderbetreuung, Untersuchungshaft, objektiver Mietwert der Wohnung, notdürftiges Wohnen in einem Zelt, Krankenversicherung
Gesetze:

§ 94 ABGB, § 69 Abs 2 EheG

GZ 1 Ob 212/10y, 25.01.2011

OGH: Vorweg ist festzuhalten, dass gegen die Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dem Kläger stehe ungeachtet der auf sein (krankheitsbedingtes) Verhalten zurückgehenden Zerrüttung der Ehe gem § 94 Abs 2 Satz 3 ABGB ein Unterhaltsanspruch zu, der ihn in die Lage versetzt, seine - an den Lebensverhältnissen der Ehegatten orientierten - Bedürfnisse zu decken, keine Bedenken bestehen. Es bestehen auch keine Bedenken dagegen, den von den Vorinstanzen angenommenen Prozentwert von 29 % der Unterhaltsbemessungsgrundlage als Ausgangswert für die weiteren Überlegungen heranzuziehen, wobei allerdings zu betonen ist, dass bei Vorliegen "untypischer" Begleitumstände oft erhebliche Korrekturen vorzunehmen sind. Richtig ist es jedenfalls, bei der Unterhaltsbemessung einerseits von der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen und andererseits vom Bedarf des Unterhaltsberechtigten auszugehen. Steht dem Unterhaltspflichtigen aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht sein gesamtes Einkommen zur Befriedigung des eigenen Unterhalts und das seiner Familie zur Verfügung, ist von vornherein von einer niedrigeren Bemessungsgrundlage auszugehen. Werden die Lebensbedürfnisse des Unterhaltspflichtigen teilweise bereits aufgrund von Leistungen des Unterhaltspflichtigen - oder etwa der öffentlichen Hand - naturaliter befriedigt, ist ein entsprechender Abzug vom global berechneten Geldunterhaltsanspruch vorzunehmen.

Nicht gefolgt werden kann der Auffassung des Berufungsgerichts, die festgestellten Kosten der ganztägigen Betreuung der Tochter in einem Kindergarten von rund 5.700 EUR jährlich seien überhaupt nicht als Abzug von der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen. Die Argumentation des Berufungsgerichts, die Ganztagsbetreuung entspreche einer Vereinbarung der Eltern, greift schon deshalb zu kurz, weil die Vereinbarung darüber hinaus vorsah, dass der Vater ab einem bestimmten Alter des Kindes wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen werde. Ist der Vater aber nun weder in der Lage, einem Erwerb nachzugehen, noch die Tochter zu betreuen, und muss die Mutter wegen ihrer vollen Berufstätigkeit erheblich höhere Kinderbetreuungskosten aufwenden, als sie einem Alleinverdiener gewöhnlich entstehen, dessen einkommensloser Ehepartner die Kinderbetreuung übernimmt, kann es nicht zweifelhaft sein, dass dadurch ihre finanzielle Leistungsfähigkeit gegenüber den "Durchschnittsfällen" herabgesetzt ist. Die Frage nach der Höhe der insoweit anfallenden Mehrkosten - die allenfalls auch nicht allein in den Kosten des Kindergartens bestehen - wird im weiteren Verfahren mit den Parteien zu erörtern sein; gegebenenfalls ist bei der Betragsfestsetzung letztlich § 273 ZPO anzuwenden. Dasselbe gilt für sonstige "ungewöhnliche" Mehrkosten, die der Beklagten aufgrund der besonderen Lebensumstände, insbesondere aufgrund der bedrohlichen Situation durch das - wenn auch nicht als Verschulden zurechenbare - Verhalten des Klägers, entstanden sind.

Keine Abzugspost von der Bemessungsgrundlage bilden entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts die laufenden Aufwendungen der Beklagten für die Ehewohnung. Derartige Kosten sind vielmehr regelmäßig von den die Wohnung nutzenden Familienmitgliedern zu tragen und aus dem verbleibenden Eigeneinkommen bzw dem Unterhaltsanspruch zu finanzieren. Da ein Zusammenleben mit dem Kläger in der früheren Ehewohnung nach den Feststellungen ausgeschlossen war, diente die Ehewohnung während erheblicher Zeiträume ausschließlich der Beklagten und der Tochter als Wohnmöglichkeit. Der Gedanke, derjenige, der sich der Nutzungsmöglichkeit durch sein Verhalten begebe, müsse sich seinen Kopfteil an den Wohnungskosten weiterhin anrechnen lassen, hat hier wegen der mangelnden Beherrschbarkeit des Verhaltens des Klägers aufgrund seiner psychischen Erkrankung keine Bedeutung. Dass der Beklagten während der Zeit der Nutzung durch den Kläger bzw des Leerstehens zusätzliche Wohnkosten entstanden wären, ist dem festgestellten Sachverhalt nicht zu entnehmen und wird auch von ihr nicht behauptet. Als Abzugspost kämen insoweit unter Umständen erhöhte Fahrtkosten für die Zeiten in Betracht, in denen die Beklagte auswärts wohnte und einen weiteren Arbeitsweg zurücklegen musste.

Nach entsprechender Erörterung und Verfahrensergänzung wird das Erstgericht unter Beachtung der dargelegten Ansätze die für die verschiedenen Zeiträume verbleibende endgültige Unterhaltsbemessungsgrundlage zu ermitteln haben.

Zur Frage, inwieweit die sich danach ermittelten Geldunterhaltsbeträge wegen teilweiser Deckung des Unterhaltsbedarfs des Klägers allenfalls reduzieren, ist Folgendes zu bemerken:

Zu Unrecht steht der Revisionswerber auf dem Standpunkt, er habe auch für die Zeit seiner Untersuchungshaft den vollen Geldunterhaltsanspruch, unabhängig vom konkreten Lebensbedarf. Richtig ist vielmehr, dass er in dieser Zeit keine weitergehenden Wohnbedürfnisse haben konnte, sodass die in jedem Geldunterhaltsanspruch enthaltene Wohnkostenkomponente jedenfalls zu entfallen hat. Weitgehend gilt dies auch für die Verpflegungskosten, doch kann dem Kläger ein gewisser Geldbetrag zu einer den ehelichen Lebensverhältnissen einigermaßen entsprechenden Ergänzung des Nahrungsangebots nicht abgesprochen werden. Es besteht auch kein Anlass, jene Unterhaltskomponente, die für nur in größeren zeitlichen Abständen erforderliche Anschaffungen (zB Bekleidung) heranzuziehen ist, für die (nicht erhebliche) Dauer der Haft zu verweigern. In diesem Zusammenhang wird letztlich eine Betragsermittlung unter Anwendung des § 273 ZPO erforderlich sein.

Dass der Kläger für die Zeit des alleinigen Bewohnens der ehemaligen Ehewohnung (für etwa mehr als fünf Monate) keinen Geldbedarf zur Bestreitung von Kosten der Wohnversorgung hatte, hat das Berufungsgericht an sich richtig erkannt. Dabei ist allerdings nicht ohne weiteres jener Geldbetrag in Abzug zu bringen, der von der Beklagten in diesem Zeitraum für die Wohnung aufgewendet wurde, zumal es insbesondere häufig von Zufälligkeiten abhängt, ob und in welcher Höhe (noch) Kreditrückzahlungen zu leisten sind. Richtigerweise ist daher in Fällen wie dem vorliegenden auf den objektiven "Mietwert" der Wohnung abzustellen, der um die vom Unterhaltspflichtigen getragenen Betriebskosten und Energiekosten zu erhöhen ist. Dabei ist allerdings auch eine gewisse Obergrenze zu beachten, sofern der erwähnte "Gesamtmietwert" jenen Betrag übersteigt, der dem Unterhaltsberechtigten ausgehend vom gesamten rechnerischen Geldunterhalt anteilig für die Wohnversorgung zur Verfügung steht; andernfalls bliebe dem Unterhaltsberechtigten kein ausreichender Geldbetrag für die Befriedigung seiner weiteren Bedürfnisse. Der für bestimmte Konstellationen entwickelte Ansatz, Rückzahlungen von für die Ehewohnung aufgenommenen Krediten zur Hälfte auf den Geldunterhaltsanspruch anzurechnen, weil mit der Schuldentilgung eheliches Vermögen geschaffen werde, welches letztlich zwischen den Ehegatten aufzuteilen sei, kann hier schon deshalb nicht zur Anwendung kommen, weil der Kläger in den zu beurteilenden Zeiträumen überhaupt keine Beiträge iSd § 83 EheG leistete, sodass er auch bei einer Vermögensaufteilung am in dieser Phase eingetretenen Vermögenszuwachs nicht partizipieren kann.

Entgegen der Auffassung des Rekursgerichts kann auch keine Rede davon sein, dass dem Kläger durch das (zeitweilige) Wohnen in einem Zelt auf einem unbebauten Grundstück der Beklagten ein ins Gewicht fallender Naturalunterhalt verschafft worden wäre, der wertmäßig in Abzug zu bringen wäre. Ein notdürftiges Wohnen in einem Zelt kann keine Minderung des Unterhaltsanspruchs wegen teilweiser Bedarfsdeckung begründen.

Festzuhalten ist, dass der Unterhaltsberechtigte grundsätzlich eigenes Vermögen zur Finanzierung seines laufenden Lebensbedarfs nicht heranziehen muss. Dies gilt entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch unter (vermeintlich) besonderen Umständen, wie sie in der Entscheidungsbegründung angeführt wurden.

Sollte die Beklagte im fortgesetzten Verfahren das in der Berufung angekündigte Vorbringen zu ihren Aufwendungen für die Mitversicherung des Klägers bzw den ihr vorgeschriebenen Kosten eines Krankenhausaufenthalts erstatten, werden auch dazu Feststellungen zu treffen sein. Soweit die Beklagte tatsächlich Aufwendungen für eine Krankenversicherung des Klägers getragen haben sollte, wird sich insoweit sein Geldunterhaltsanspruch für die entsprechenden Versicherungszeiten mindern, weil er sich so den Aufwand für eine eigene Krankenversicherung erspart hätte. Ob bzw inwieweit Kosten einer Spitalsbehandlung als unterhaltsrechtlicher Sonderbedarf zu behandeln und vom Unterhaltspflichtigen zusätzlich zum laufenden Unterhalt zu tragen sind, hängt insbesondere auch von der Höhe des (rechnerischen) Unterhaltsanspruchs ab, der noch nicht ausreichend geklärt ist. Entscheidend wird va sein, ob und in welcher Höhe die Beklagte überhaupt mit den Kosten des Krankenhausaufenthalts belastet war oder ob diese von der Krankenversicherung beglichen wurden.