VwGH: Verfahrenshilfe - Antrag auf Beigabe eines Verteidigers nach § 77 Abs 3 FinStrG
Neben der Höhe der angedrohten Strafe kann insbesondere die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage sowie die Komplexität der Materie die Beiziehung eines Verteidigers notwendig machen
§ 77 Abs 3 FinStrG, Art 6 Abs 3 lit c EMRK
GZ 2008/16/0070, 25.11.2010
VwGH: Nach dem Erkenntnis des VfGH vom 5. Oktober 1994, G 161/94, ist Art 6 Abs 3 lit c EMRK auf ein Finanzvergehen iSd FinStrG anwendbar. Dieser Bestimmung zufolge hat jeder Angeklagte das Recht, "falls er nicht über die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers verfügt, unentgeltlich den Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist". Als Gründe, welche die Beigabe einer unentgeltlichen Verteidigung im "Interesse der Rechtspflege" erforderlich machen, kommen neben in der Person des Beschuldigten liegenden Gründen auch mit der Tat verknüpfte und mit dem Verfahren verbundene in Betracht. Neben der Höhe der angedrohten Strafe kann insbesondere die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage sowie die Komplexität der Materie die Beiziehung eines Verteidigers notwendig machen.
Die belangte Behörde hat die Abweisung des Antrages auf Beigebung der Verfahrenshilfe ausschließlich damit begründet, dass der Beschwerdefall weder materiell-rechtliche noch verfahrensrechtliche Komplexität aufweise. Sie hat es aber unterlassen, sich mit der Frage, ob der Bf eine schwer wiegende Sanktion drohte, auseinander zu setzen.
Im Beschwerdefall wurden über die Bf, welche bereits im Strafverfahren angegeben hat, lediglich Notstandshilfe zu beziehen und für zwei Kinder sorgepflichtig zu sein, Strafen von insgesamt EUR 21.586 (zuzüglich Kosten von EUR 363) verhängt. Damit bewegt sich die Höhe der über die Bf verhängten Strafen bzw der ihr höchstens drohenden Strafen nicht mehr im Rahmen dessen, was der VwGH in vergleichbaren Fällen als nicht ausschlaggebend für die Gewährung der Verfahrenshilfe angesehen hat. Dass im Beschwerdefall Gründe vorlägen, warum diese Strafen dennoch nicht als schwer wiegend anzusehen wären, wurde von der belangte Behörde nicht festgestellt und ist auch für den VwGH nicht ersichtlich.
Indem die belangte Behörde der Höhe der Strafe keine Bedeutung beigemessen hat, hat sie die Rechtslage verkannt und ihren Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.