OGH: Stehen der Prospekthaftung nach § 11 KMG aktienrechtliche Bestimmungen (§§ 52 ff AktG) entgegen?
Der erkennende Senat schließt sich der überwiegenden Meinung zum Vorrang der Prospekthaftungsansprüche an; ein Ausschluss von Prospekthaftungsansprüchen eines Großanlegers oder eines qualifizierten Anlegers, der eine prospektpflichtige Emission zeichnet, ist dem KMG nicht zu entnehmen
§§ 1295 ff ABGB, § 11 KMG, §§ 52 ff AktG
GZ 7 Ob 77/10i, 30.03.2011
OGH: Die Berechtigung des gegenüber der erstbeklagten AG erhobenen Begehrens auf Schadenersatz durch Naturalrestitution wegen Verletzung der Prospektpflicht (§ 11 KMG) oder sekundärmarktrechtlicher Informationspflichten (zB § 48d BörseG) hängt grundsätzlich davon ab, ob dem aktienrechtliche Bestimmungen entgegenstehen, wie dies von der Erstbeklagten im Rekurs unter Berufung auf § 52 (Verbot der Einlagenrückgewähr), § 65 (Verbot des Erwerbs eigener Aktien) und § 47a AktG (Gebot der Gleichbehandlung aller Aktionäre) geltend gemacht wird.
Der OGH hat zwar in der Entscheidung 3 Ob 75/06k eine ua gegen die emittierende AG erhobene Klage auf Bezahlung des Gesamtkaufpreises für Aktien gegen Abtretung der Ansprüche aus den Zwischenscheinen über diese Aktien wegen Prospekthaftung nach § 11 KMG für berechtigt erachtet, ohne die dargestellten aktienrechtlichen Fragen zu thematisieren. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen erfolgte bisher in der Judikatur nicht.
In der österreichischen Lehre werden sehr unterschiedliche Standpunkte vertreten. Überwiegend wird ein Vorrang der Prospekthaftungsansprüche angenommen, weil ein Konflikt mit §§ 52 ff AktG gar nicht vorliege, da der Aktionär bei Befriedigung von Prospekthaftungsansprüchen nicht als solcher, sondern wie ein schadenersatzberechtigter Gläubiger behandelt werde und diese daher gar nicht causa societatis geleistet würden; die Leistung an den Aktionär stelle keine verbotene, sondern eine sachlich (betrieblich) gerechtfertigte Zahlung dar. Nach einigen Meinungen soll die Befriedigung der Schadenersatzansprüche aber nur aus frei ausschüttbaren Mitteln, also aus Gewinn(-vorträgen) und freien Rücklagen zulässig sein. Es soll auch § 225e Abs 3 iVm § 225j Abs 2 AktG analog angewendet werden, um Schadenersatz ohne Schmälerung des Nettoaktivvermögens durch Ausgabe eigener Aktien oder von Aktien, die aus einer Art nominellen Kapitalerhöhung stammen, an die Neuaktionäre zu leisten. Dem gegenüber wird auch ein Vorrang der Kapitalerhaltungsregeln vertreten.
Die jüngste Auseinandersetzung mit diesem Fragenkomplex stammt von Rüffler. Er plädiert für den Vorrang der Schadenersatzansprüche des Anlegers, regt jedoch eine Differenzierung zwischen Klein- und Großanlegern an.
Der erkennende Senat schließt sich der überwiegenden Meinung zum Vorrang der Prospekthaftungsansprüche an.
Gruber und Rüffler haben zutreffend aufgezeigt, dass weder die Lex-posterior-Regel noch die Lex-specialis-Regel bei der Lösung des Konflikts der europarechtlichen (ProspektRL und TransparenzRL gegenüber der KapitalRL) und der nationalen Normen (§ 52 AktG zu § 11 KMG) weiterhelfen.
Entscheidend sind die Wertungen der maßgeblichen Normen, die gegenüber zu stellen sind. Das KMG will den Anlegerschutz durch ausreichende Informationen, die dem Anleger eine sachgerechte Entscheidung ermöglichen, und durch Haftpflichten gewährleisten. Die kapitalmarktrechtlichen Normen, deren Anwendbarkeit hier in Frage steht, schützen also die ausdrücklich so bezeichneten (potentiellen) Anleger durch Normierung von ihnen gegenüber einzuhaltenden Verhaltenspflichten und behandeln den Aktionär somit wie einen Drittgläubiger (zumal Prospekthaftungsansprüche nur neuen Aktionären zustehen können [§ 11 Abs 5 KMG]). Dem gegenüber wird das Verbandsmitglied im Gesellschaftsrecht als Risikoträger angesehen, dessen Interessen hinter jenen der Drittgläubiger nachrangig sind. Unter anderem § 11 KMG schafft somit ein Recht, das Gläubigerrechten zweifellos näher steht als Aktionärsrechten. Dagegen lassen sich daher auch nicht jene Einwände erheben, die gegen die Liquidierung von Schäden aus der Verletzung von Aktionärsrechten sprechen. Die als schadenersatzberechtigter Gläubiger erhobenen Prospekthaftungsansprüche und deren Befriedigung stellen daher gar keinen Tatbestand der Einlagenrückgewähr nach § 52 AktG dar, weil sie nicht causa societatis erfolgen (in diesem Sinn auch BGH, ZIP 2005, 1270, wonach die Ersatzforderungen der Anleger nicht auf ihrer mitgliedschaftsrechtlichen Sonderbeziehung als Aktionäre, sondern auf ihrer Stellung als Drittgläubiger beruhen); es ist daher auch nicht geboten, die Schadenersatzansprüche des als Drittgläubiger zu behandelnden Aktionärs auf das ausschüttbare Vermögen zu beschränken; aus diesem Grund stellt sich das Problem der Gleichbehandlung der „Aktionäre“ nach § 47a AktG ebenfalls nicht.
Das AktG sieht selbst den Erwerb eigener Aktien als unmittelbar tatbestandsmäßig iSd § 52 AktG an, indem es in § 52 Satz 2 AktG die Zahlung des Erwerbspreises beim Erwerb eigener Aktien dann vom Verbot ausnimmt, wenn dieser Erwerb ausnahmsweise nach §§ 65 und 66 AktG zulässig ist. Daraus folgt, dass §§ 65 ff AktG gegenüber § 52 AktG Ausnahmevorschriften sind. Diese sind hier nicht mehr zu prüfen, weil schon der Grundtatbestand des § 52 AktG nicht erfüllt ist.
Der an Reich-Rohrwig anknüpfenden Anregung von Rüffler, aus der Wertung der Ausnahmen von der Prospektpflicht nach § 3 Abs 1 Z 9 (Mindestanlagebetrag oder Mindeststückelung 50.000 EUR) und Z 11 KMG (Angebot ausschließlich an qualifizierte Anleger), Großanleger und qualifizierte Anleger würden vom Gesetz als nicht schutzwürdig angesehen werden, abzuleiten, diesen komme der Vorrang des Kapitalmarktrechts nicht zugute, weil sie eher als Verbandsmitglieder gesehen würden, ist nicht zu folgen. Die Befreiung von der Prospektpflicht führt nur dazu, dass bei Inanspruchnahme dieser Ausnahmebestimmung eine Prospekthaftung nicht entstehen kann. Ein Ausschluss von Prospekthaftungsansprüchen eines Großanlegers oder eines qualifizierten Anlegers, der eine prospektpflichtige Emission zeichnet, ist aber dem KMG nicht zu entnehmen, weshalb es bei der unbeschränkten Möglichkeit jedes Aktionärs zu bleiben hat, im KMG vorgesehene Schadenersatzansprüche gegen die AG geltend zu machen.