29.06.2011 Zivilrecht

OGH: Zur Sperrwirkung des Art 16 HKÜ (iZm vorläufiger Übertragung der Obsorge)

Auch eine vorläufige Übertragung der Obsorge unterliegt der Sperrwirkung des Art 16 HKÜ und kann nicht mehr erlassen werden, wenn ein Rückführungsantrag eingelangt ist


Schlagworte: Familienrecht, Haager Kindesentführungsübereinkommen, Sachentscheidung, Sperrwirkung, vorläufige Übertragung der Obsorge
Gesetze:

Art 16 HKÜ, Art 17 HKÜ

GZ 7 Ob 234/10b, 27.04.2011

 

Der Revisionsrekurs räumt ein, dass die Antragstellung nach dem HKÜ die Unterbrechung eines anhängigen Sorgerechtsverfahrens gem Art 16 HKÜ bewirke und eine sog „Sperrwirkung“ eintrete, auf Grund derer eine Sachentscheidung über das Sorgerecht nicht mehr getroffen werden könne. Die Rechtsmittelwerberin meint jedoch, dass hier gar keine Sachentscheidung vorliege, weil es sich um eine vorläufige Obsorgeentscheidung handle. Außerdem habe der Antragsgegner durch seine „um einen Tag schnellere Antragstellung“ beim unzuständigen Gericht den Antrag der Mutter nicht „überholen“ und damit eine vorläufige Entscheidung des Erstgerichts nicht verhindern können. Maßgeblich für die Sperrwirkung des Art 16 HKÜ sei das Einlangen des Antrags beim zuständigen Gericht (am 24. 6. 2010); jenes beim BG Innere Stadt Wien (am 18. 6. 2010) habe „noch“ keine Verfahrensunterbrechung auslösen können.

 

OGH: Nach Art 16 HKÜ ist es den Gerichten untersagt, nach Erhalt einer Mitteilung über eine widerrechtliche Kindesentführung iSd Art 3 HKÜ eine Sachentscheidung über das Sorgerecht zu treffen, solange nicht entschieden ist, dass das Kind auf Grund des HKÜ nicht zurückzugeben ist, oder wenn innerhalb angemessener Frist nach Mitteilung kein Antrag nach dem HKÜ gestellt wird.

 

Art 16 HKÜ bewirkt die Unterbrechung eines anhängigen Sorgerechtsverfahrens und gibt dem Rückführungsverfahren nach dem HKÜ Vorrang. Bereits anhängige Sorgerechtsverfahren im Zufluchtsstaat sind jedenfalls auszusetzen. Es tritt eine sog „Sperrwirkung“ ein, auf Grund derer keine Sachentscheidung über das Sorgerecht mehr getroffen werden darf; das gilt auch für Entscheidungen über das Aufenthaltsrecht als Teil des Sorgerechts.

 

In der Entscheidung 5 Ob 260/09k hat der OGH Folgendes ausgeführt:

 

„Nach der Rsp des OGH tritt eine sog „Sperrwirkung“ ein, auf Grund derer keine Sachentscheidung über das Sorgerecht mehr getroffen werden darf. ... Ist dennoch eine Sorgerechtsentscheidung ergangen, stellt sie nach der ausdrücklichen Anordnung des Art 17 HKÜ keinen Grund dar, die Rückgabe des Kindes zu verweigern. Der entführende Elternteil soll nicht dadurch, dass er in einem anderen als dem Herkunftsstaat des Kindes - insbesondere nicht im Zufluchtsstaat - eine ihm günstige Sorgerechtsentscheidung erstreitet, die Rückgabe verhindern können. Der ersuchte Staat darf nicht allein wegen der im Inland wirksamen entgegengesetzten Entscheidung die Rückgabe ablehnen. Anträgen nach dem HKÜ kann nach der Regelung des Art 17 HKÜ nicht durch innerstaatliche Entscheidungen über das Sorgerecht der Boden entzogen werden. ... Die von den Vorinstanzen als Begründung für die Abweisung des Vollstreckungsantrags herangezogenen Gründe sind also nicht tragfähig, weil es der Antragsgegnerin trotz der ihr übertragenen vorläufigen Obsorge nicht frei steht, den Aufenthaltsort ihrer Kinder entgegen der die Rückgabe nach dem HKÜ anordnenden Entscheidung ... zu bestimmen.“

 

Entgegen der Ansicht der Rechtsmittelwerberin entspricht es somit den vom OGH bereits dargelegten Grundsätzen, dass auch eine - wie hier vom Erstgericht ausgesprochene - vorläufige Übertragung der Obsorge an die Mutter der Sperrwirkung des Art 16 HKÜ unterliegt und jedenfalls auch nicht mehr erlassen werden kann, wenn ein Rückführungsantrag eingelangt ist.

 

Dem Umstand, ob diese Wirkung bereits mit der Antragstellung nach dem HKÜ beim BG Innere Stadt Wien eintrat, oder - wie der Revisionsrekurs meint - erst mit Kenntnis des BG Linz (als dem nach § 5 Abs 1 des Bundesgesetzes zur Durchführung des HKÜ für die Entscheidung über Rückführungsanträge nach dem HKÜ zuständigen BG am Sitz des Gerichtshofs erster Instanz, in dessen Sprengel sich das Kind aufhält), kommt keine Bedeutung zu. Selbst wenn man den von der Rechtsmittelwerberin zugestandenen späteren Zeitpunkt (24. 6. 2010) zugrunde legt, hat das Rekursgericht den Beschluss des Erstgerichts vom 6. 7. 2010 nämlich zu Recht aufgehoben. Das Erstgericht hat jedenfalls - ob nun der Antrag des Vaters auf Rückführung der Kinder vor oder nach dem Antrag der Mutter auf Übertragung der vorläufigen Obsorge als gerichtsanhängig zu qualifizieren ist - zu Unrecht über letzteren Antrag entschieden.