OGH: Unterhalt bei alleinigem Verschulden gem § 66 EheG – Unterhaltsbemessung nach Billigkeit, wenn der Unterhaltsberechtigte (Sozialhilfeempfänger) bei Bemessung seines Unterhalts nach der „Prozentsatzmethode“ de facto ein höheres Einkommen als der Unterhaltsverpflichtete zur Verfügung hätte?
Nach § 66 EheG kommt auch im untersten Einkommensbereich eine Kürzung des Prozentunterhalts nach Billigkeit - außer in den Fällen des § 67 EheG - nicht in Betracht
§ 66 EheG
GZ 1 Ob 231/10t, 26.01.2011
Die Ehe der Streitteile ist aus dem (Allein-)Verschulden des Beklagten rechtskräftig geschieden.
Die Klägerin lebt von Sozialhilfe. Die vom Magistrat der Stadt Wien bezogenen Sozialhilfeleistungen setzen sich aus dem Richtsatz, einer monatlichen Wohnbeihilfe, einem monatlichen Zuschuss zur Miete (Mietbeihilfe), einem jährlichen Heizkostenzuschuss sowie zwei Mal jährlich einer Sonderzahlung zusammen. Umgerechnet auf den Monat erhielt die Klägerin im Jahr 2009 monatliche Sozialhilfeleistungen von 932,28 EUR und im Jahr 2010 solche von 945,26 EUR. Das für die Unterhaltsbemessung relevante Einkommen der Klägerin in den Jahren 2009 und 2010 beträgt monatlich 196,80 EUR (darin Miet[zins]beihilfe, Heizkostenzuschuss etc).
Der Beklagte ist Pensionist. Er erhielt umgelegt im Jahr 2009 monatlich 1.191,86 EUR und im Jahr 2010 monatlich 1.204,15 EUR an Pension.
OGH: Es entspricht stRsp, dass für die Sozialhilfe im Gegensatz zur Sozialversicherung der Grundsatz der Subsidiarität gilt, also die Sozialhilfe erst dann eingreifen soll, wenn der Hilfsbedürftige bei (zumutbarem) Einsatz seiner Mittel nicht mehr in der Lage ist, seinen Lebensbedarf zu decken. Um diesem Grundsatz Rechnung zu tragen und eine Doppelversorgung zu vermeiden, bedienen sich die einzelnen Landesgesetzgeber verschiedener rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten, etwa Rückersatz- und Legalzessionsnormen. So finden sich in den Sozialhilfegesetzen oftmals Bestimmungen, die den Sozialhilfeempfänger zum Ersatz der Sozialhilfeleistung verpflichten, sobald er über ein ausreichendes Einkommen verfügt; oftmals wird gleichzeitig normiert, dass der Unterhaltsanspruch nach einer entsprechenden Anzeige an den Unterhaltsverpflichteten rückwirkend auf den Sozialhilfeträger im Rahmen einer „aufgeschobenen“ Legalzession übergeht. Es besteht Einheitlichkeit in der Meinung darüber, dass bei Vorhandensein derartiger Rückersatz- bzw Legalzessionsregelungen der Sozialhilfebezug für dessen Empfänger einen Unterhaltsanspruch nicht ausschließt. Nur wenn das jeweilige Sozialhilfegesetz keine den Sozialhilfeempfänger betreffende Rückzahlungsverpflichtung oder keine („aufgeschobene“) Legalzession des Unterhaltsanspruchs vorsieht und demnach die einmal gewährte Sozialhilfe nicht mehr zurückgefordert werden kann, ist sie als anrechenbares Eigeneinkommen des Unterhaltsberechtigten anzusehen. Damit wird einerseits eine Doppelversorgung des Unterhaltsberechtigten vermieden und andererseits dem Grundsatz Rechnung getragen, dass der Unterhaltspflichtige durch die Gewährung von Sozialhilfe nicht zu Lasten des Sozialhilfeträgers von seiner Verpflichtung entlastet werden soll.
Das hier maßgebliche Wiener Sozialhilfegesetz (WSHG) enthält sowohl eine den Empfänger der Sozialhilfe treffende Rückersatzverpflichtung (§ 26 Abs 1 WSHG) als auch die Geltendmachung von Ansprüchen auf Deckung des Lebensbedarfs gegenüber dem Unterhaltsverpflichteten im Wege der Legalzession durch Erklärung des Sozialhilfeträgers (§ 27 WSHG). Aus dem Vorhandensein dieser Rückersatzbestimmungen zogen die Vorinstanzen die im Einklang mit der dargestellten Rsp stehende Schlussfolgerung, die Sozialhilfe habe (grundsätzlich) bei der Unterhaltsfestsetzung außer Betracht zu bleiben und stelle kein frei verfügbares Einkommen der Klägerin dar. Dass der unterhaltsverpflichtete Beklagte gem § 27 WSHG verständigt und dadurch die Zession bereits wirksam geworden und nur noch der Sozialhilfeträger als Zessionar zur Geltendmachung des zedierten Unterhaltsanspruchs berechtigt wäre, wurde nicht vorgebracht.
Die Wohn- und Miet(zins)beihilfen sind als in die Unterhaltsbemessungsgrundlage einzubeziehende Einkommensbestandteile zu behandeln; konsequenterweise muss sich also auch ein Unterhaltsberechtigter eine von ihm bezogene Wohn- und Miet(zins)beihilfe als den Unterhaltsanspruch minderndes Eigeneinkommen anrechnen lassen. Gleiches muss für den Heizkostenzuschuss gelten. All diese Bezüge dienen der Deckung eines unzumutbaren Wohnaufwands, somit eines typischen Unterhaltsbedarfs.
Entsprechend der Prozentsatzjudikatur stehen der Klägerin nach § 66 EheG mangels weiterer Sorgepflichten 40 % des Gesamteinkommens beider Ehegatten als Orientierungswert abzüglich ihres Eigeneinkommens als Unterhalt zu. Ihr monatlicher Unterhaltsanspruch ist daher seit 1. Februar 2009 mit 360 EUR zu bemessen, was sich auch wie schon vom Erstgericht dargelegt wurde, im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Beklagten hält. Auf Verpflichtungen iSd § 67 Abs 1 EheG hat er sich nicht berufen.
Zu Recht widerspricht die Revisionswerberin der Ansicht der Vorinstanzen, dass ihr aus Billigkeitserwägungen nur monatliche Unterhaltszahlungen von 180 EUR zustünden. Die Fälle des § 67 EheG ausgenommen bietet § 66 EheG (anders als etwa die §§ 68 und 68a EheG) keine Grundlage für eine Unterhaltsbemessung nach Billigkeit, mag er auch unbestimmte Gesetzesbegriffe enthalten. Dass die Klägerin bei Bemessung ihres Unterhalts nach der „Prozentsatzmethode“ de facto ein höheres Einkommen als der Beklagte zur Verfügung hätte und der ihr zur Verfügung stehende Geldbetrag im Ergebnis gleich bleibe, wenn sich nach Unterhaltsgewährung die Sozialhilfe aliquot verringere, hat auf ihren Unterhaltsanspruch nach § 66 EheG keinen Einfluss. Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, ob die unterhaltsberechtigte Klägerin den Unterhaltsanspruch erreichende oder ihn sogar übersteigende Zahlungen in Form von Sozialhilfe bereits erhalten hat, weil die Sozialhilfe nicht bezweckt, unterhaltspflichtige geschiedene Ehegatten zu entlasten. Für die Rechtsansicht der Vorinstanzen, der Grundsatz, dass eine vom Unterhaltsberechtigten bezogene Sozialhilfe kein unterhaltsminderndes Eigeneinkommen sei, solle „in einkommensschwachen Fällen“ nur dann gelten, wenn nach der Bemessung des Unterhalts das dem Unterhaltspflichtigen verbleibende Einkommen nicht unter jenes des Unterhaltsberechtigten falle, sondern dieses um etwa 10 % übersteige, findet sich keine gesetzliche Deckung. Diese Auffassung hätte nicht nur zur Konsequenz, dass die Klägerin als Sozialhilfeempfängerin nur einen reduzierten Unterhaltsanspruch gegenüber dem beklagten Unterhaltsverpflichteten hätte, sondern auch, dass infolge rechtskräftiger Aberkennung eines Unterhaltsanspruchs dem Sozialhilfeträger die Möglichkeit genommen wäre, im Weg der Legalzession durch Erklärung vom Unterhaltsverpflichteten Rückersatz zu erlangen. Dadurch käme es im Ergebnis zu einer Subsidiarität des Unterhaltsanspruchs. Das stünde im Widerspruch zum in Österreich geltenden Grundsatz der Subsidiarität der Sozialhilfe. Dass der Klägerin ein höheres Gesamteinkommen als dem Unterhaltspflichtigen verbleiben könnte, würde sich aus ihrem gesetzlichen Anspruch nach dem WSHG ergeben. Sollte der Beklagte nach der Bemessung des Unterhaltsanspruchs der Klägerin allenfalls Anspruch auf Sozialleistungen haben, ist dies nicht bei der hier gegenständlichen Festsetzung des Unterhalts der Klägerin nach § 66 EheG zu berücksichtigen.
Nach der neueren Rsp ist auch eine vom unterhaltsberechtigten Ehegatten bezogene Ausgleichszulage (§ 292 Abs 1 ASVG) wegen ihres subsidiären, sozialhilfe-ähnlichen Charakters kein unterhaltsminderndes Eigeneinkommen des Unterhaltsberechtigten. Heigl, auf den sich das Erstgericht bezieht, schlägt - ohne nähere rechtliche Darlegungen - vor, von diesem Grundsatz dann eine Ausnahme zu machen, wenn der unterhaltspflichtige Ehegatte selbst nur ein nicht deutlich über dem Ausgleichszulagenrichtsatz liegendes (Pensions-)Einkommen habe. Ansonsten könne der unbillige Fall eintreten, dass der Unterhaltsberechtigte insgesamt über mehr Mittel verfüge als der Unterhaltspflichtige. Dem hält jedoch Dumpfhart zutreffend entgegen, dass für diese Fälle nur eine Lösung durch den Gesetzgeber in Betracht kommt.