10.08.2011 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Invalidität (§ 255 ASVG), Berufsunfähigkeit (§ 273 ASVG) und Erwerbsunfähigkeit (§ 133 GSVG) - Krankenbehandlung iZm Verletzung der Mitwirkungspflicht

Eine schuldhafte, also eine zumindest leicht fahrlässige Verletzung der Duldungs- oder Mitwirkungspflicht des Versicherten, der sich einer zumutbaren Krankenbehandlung zu unterziehen hat, führt zum Verlust des Anspruchs; eine Pflicht des Versicherten zur Krankenbehandlung setzt ein entsprechendes Verlangen des Versicherungsträgers voraus; könnte durch eine zumutbare Krankenbehandlung die - herabgesunkene - Arbeitsfähigkeit des Versicherten so weit gebessert werden, dass Invalidität / Berufsunfähigkeit / Erwerbsunfähigkeit nicht mehr vorliegt, so besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit / Erwerbsunfähigkeit, wobei dieser „Pensionsentfall“ allerdings erst zu jenem Zeitpunkt eintritt, in dem die Heilbehandlung zu einer (kalkülsrelevanten) Verbesserung des Zustands tatsächlich geführt hat oder geführt hätte, wäre sie vom Versicherten durchgeführt worden


Schlagworte: Gewerbliches / Allgemeines Sozialversicherungsrecht, Pensionsversicherung, Invalidität, Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Krankenbehandlung, Verletzung der Mitwirkungspflicht, adäquat kausal
Gesetze:

§ 255 ASVG, § 273 ASVG, § 133 GSVG

GZ 10 ObS 58/11v, 28.06.2011

 

OGH: Nach § 133 Abs 2 GSVG gilt auch ein Versicherter, der das 50. Lebensjahr vollendet hat und dessen persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebs notwendig war, als erwerbsunfähig, wenn er infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die der Versicherte zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt hat.

 

Nach dem allgemeinen Grundsatz, dass ein Versicherter die Interessen des Sozialversicherungsträgers und damit auch die der anderen Versicherten in zumutbarer Weise zu wahren hat, will er seine Ansprüche nicht verlieren, ist er nach stRsp verpflichtet, eine notwendige Krankenbehandlung durchzuführen, die zu einer Heilung und Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit führen würde, sofern die Behandlung für ihn nicht mit unzumutbaren Gefahren verbunden ist. Eine schuldhafte, also eine zumindest leicht fahrlässige Verletzung der Duldungs- oder Mitwirkungspflicht des Versicherten, der sich einer zumutbaren Krankenbehandlung zu unterziehen hat, führt zum Verlust des Anspruchs. Eine Pflicht des Versicherten zur Krankenbehandlung setzt ein entsprechendes Verlangen des Versicherungsträgers voraus. Stellt sich im gerichtlichen Verfahren heraus, dass ein Leidenszustand durch eine Krankenbehandlung verbessert werden könnte, so entsteht die Mitwirkungspflicht des Versicherten erst nach einem entsprechenden Verlangen des Versicherungsträgers. Dabei muss sich für den Versicherten eindeutig ergeben, dass die Missachtung des Verlangens des Versicherungsträgers als Sanktion den Leistungsverlust nach sich zieht.

 

Diese für den Bereich des Sozialversicherungsrechts bestehenden Duldungs- und Mitwirkungspflichten bezüglich medizinischer Behandlungen werden in der Rsp auch aus den Bestimmungen über die Schadensminderungspflicht im Bereich des bürgerlichen Rechts abgeleitet, sodass die dazu in LuRsp entwickelten Grundsätze als Richtlinien dienen können. Die gesetzliche Basis für die Pflicht des Geschädigten, den Schaden möglichst gering zu halten, ist nach hL in § 1304 ABGB zu finden. Die bürgerlich-rechtlichen Verpflichtungen über die Schadensminderungspflicht beruhen auf dem Gedanken, dass derjenige, der die Sorgfalt außer Acht lässt, die nach Lage der Sache erforderlich scheint, um sich selbst vor Schaden zu bewahren, den Verlust oder die Kürzung seines Schadenersatzanspruchs hinnehmen muss. Im Sozialversicherungsrecht besteht die Konsequenz der Verweigerung einer zumutbaren Krankenbehandlung darin, dass dem Versicherten diejenige Ersatzleistung aberkannt wird, die mit dazu dienen soll, ein von der Sozialversicherung anerkanntes Risiko abzudecken. Dabei bezweckt die Sozialversicherung im Ergebnis nichts anderes als das bürgerlich-rechtliche Schadenersatzrecht, das dem Geschädigten dann die Ersatzleistung des Schädigers vorenthält, wenn er es unterlässt, den eingetretenen Schaden zu mindern, obwohl er dazu in der Lage wäre.

 

Eine Pflichtverletzung des Geschädigten ist für die Anwendung des § 1304 ABGB nur dann relevant, wenn sie für die Entwicklung des Schadens adäquat kausal geworden ist. Auch ein Versicherter, der seine Mitwirkungspflicht verletzt, kann rechtlich nicht anders beurteilt werden, als wenn er dieser Verpflichtung nachgekommen wäre. Könnte daher durch eine zumutbare Krankenbehandlung die - herabgesunkene - Arbeitsfähigkeit des Versicherten so weit gebessert werden, dass Invalidität bzw Berufsunfähigkeit (hier: Erwerbsunfähigkeit) nicht mehr vorliegt, so besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit (hier: Erwerbsunfähigkeit), wobei dieser „Pensionsentfall“ allerdings erst zu jenem Zeitpunkt eintritt, in dem die Heilbehandlung zu einer (kalkülsrelevanten) Verbesserung des Zustands tatsächlich geführt hat oder geführt hätte, wäre sie vom Versicherten durchgeführt worden.