OGH: Zur Frage, ob auch beim Briefschutz gem § 77 UrhG eine Interessenabwägung vorzunehmen ist
§ 77 UrhG ist eine persönlichkeitsrechtliche Bestimmung, die dem Schutz der Privatsphäre dient; ihr liegt - ebenso wie § 7 Abs 1 MedienG - die Wertung zu Grunde, dass der höchstpersönliche Lebensbereich eines Menschen ohne Zustimmung des Betroffenen nur ausnahmsweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden darf; eine Verletzung des § 77 UrhG kann nur durch ein im Rahmen einer Interessenabwägung gewonnenes höhergradiges Veröffentlichungsinteresse des Verletzers gerechtfertigt sein, das vom Verletzer zu behaupten und zu beweisen ist
§ 77 UrhG
GZ 4 Ob 3/11m, 12.04.2011
Der Kläger macht geltend, die Prüfung, ob Rechte aus § 77 Abs 1 UrhG verletzt worden seien, habe sich auf die Prüfung zu beschränken, ob der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Nichtverbreitung der von ihm verfassten vertraulichen Aufzeichnungen habe; entgegen der Auffassung der Vorinstanzen sei hingegen nach dem klaren Gesetzeswortlaut keine Interessenabwägung vorzunehmen.
OGH: Nach § 77 Abs 1 UrhG dürfen Briefe, Tagebücher und ähnliche vertrauliche Aufzeichnungen weder öffentlich vorgelesen noch auf eine andere Art, wodurch sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, verbreitet werden, wenn dadurch berechtigte Interessen des Verfassers oder, falls er gestorben ist, ohne die Veröffentlichung gestattet oder angeordnet zu haben, eines nahen Angehörigen verletzt würden.
§ 77 UrhG ist keine urheberrechtliche Norm, sondern eine persönlichkeitsrechtliche Bestimmung. Sie dient dem Schutz der Privatsphäre des Verfassers, im Fall des Briefes auch des Empfängers.
Der Briefschutz des § 77 UrhG besteht unabhängig davon, ob die Briefe, Tagebücher oder sonstigen Aufzeichnungen urheberrechtlich geschützt sind (§ 77 Abs 4 UrhG), also auch dann, wenn es sich um einfache Mitteilungen und keine Äußerungen von literarischem Wert oder keine eigentümlichen geistigen Schöpfungen handelt. Die Bestimmung normiert einen Persönlichkeits- und Geheimnisschutz, der nicht an die Stelle, sondern ergänzend neben einen allfälligen urheberrechtlichen Schutz tritt und vor einem Missbrauch vertraulicher Aufzeichnungen schützen soll.
Der vom Gesetz verwendete Ausdruck „Briefschutz“ ist zu eng. Schutzgegenstand sind nämlich nicht nur Briefe, sondern auch Tagebücher und ähnliche vertrauliche Aufzeichnungen. Vertraulich sind Aufzeichnungen und Mitteilungen, die nach der Intention des Verfassers nicht an die Öffentlichkeit gelangen bzw nur einem bestimmten Empfängerkreis zugänglich sein sollen.
Die Vorinstanzen haben mit zutreffender Begründung bejaht, dass durch die Veröffentlichung des vom Kläger verfassten Schriftstücks, das als vertrauliche Aufzeichnung seiner Art nach unter den Schutz des § 77 UrhG fällt, berechtigte Interessen des Verfassers verletzt werden.
Berechtigt iSd auszulegenden Bestimmung ist ein Interesse nämlich dann, wenn es bei objektiver Prüfung des Einzelfalls als schutzwürdig anzusehen ist, wobei zu den schutzwürdigen Interessen auch der Schutz des Privatbereichs zählt. Familiäre Umstände oder persönliche Meinungen des Verfassers (hier: etwa über Geschäftspartner und Politiker) sollen in aller Regel nur mit Zustimmung des Betroffenen bekannt werden.
Auch § 7 Abs 1 MedienG ahndet Verletzungen des höchstpersönlichen Lebensbereichs, wenn auch nur in den dort genannten qualifizierten Fällen. Der Anwendungsbereich des offener gefassten § 77 UrhG ist gegenüber dieser Bestimmung daher weiter, doch liegt beiden Bestimmungen dieselbe Wertung zugrunde, dass der höchstpersönliche Lebensbereich eines Menschen ohne Zustimmung des Betroffenen nur ausnahmsweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden darf.
Im Zusammenhang mit dem Bildnisschutz des § 78 UrhG erkennt der Senat in langjähriger Rsp, dass das schutzwürdige Interesse des Abgebildeten an der Verhinderung einer Verbreitung seines Bildnisses die Verbreitung grundsätzlich unzulässig macht; behauptet allerdings auch derjenige, der das Bildnis verbreitet, ein Interesse an dieser Verbreitung, dann müssen die beiderseitigen Interessen gegeneinander abgewogen werden. In solchen Fällen kann daher die Bildnisveröffentlichung nur durch ein im Rahmen einer Interessenabwägung gewonnenes höhergradiges Veröffentlichungsinteresse des Bildverbreiters gerechtfertigt sein.
Mangels kasuistischer Regelung durch den Gesetzgeber, in welchen Fällen Bildnisse verbreitet werden dürfen, ist somit nach einem flexiblen Interessenprinzip in zwei Stufen die Rechtswidrigkeit einer Bildnisveröffentlichung zu beurteilen: Als erster Schritt ist stets zu prüfen, ob im Einzelfall durch die Veröffentlichung überhaupt ein berechtigtes Interesse des Abgebildeten verletzt worden ist. Wenn ja, ist in einem zweiten Schritt die Interessenlage auf beiden Seiten zu beurteilen und abzuwägen.
Diese Überlegungen gelten - entgegen der Auffassung des Klägers - auch im Bereich des Briefschutzes nach § 77 UrhG.